Artikel aus dem DLRmagazin 174: Aerodynamische Forschung unter den Restriktionen des Versailler Friedensvertrags

Vom Automobil bis zur Zugbremse

Windrad im Windkanal
Ein vielflügliges Windrad im Windkanal der AVA im Jahr 1925

Nachdem die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs am 11. November 1918 beendet waren, wurde am 28. Juni 1919 der sogenannte Versailler Friedensvertrag unterzeichnet. Er hatte weitreichende Auswirkungen auf die Luftfahrt im Deutschen Reich: Bis 1922 waren sowohl die Luftfahrtforschung als auch der Bau von leistungsstarken Flugzeugen und Flugmotoren verboten. Dementsprechend machten sich die Forschenden auf die Suche nach neuen Einnahmequellen, um Forschungsanlagen und Mitarbeitende zu finanzieren ...

Das Luftfahrtforschungsverbot hatte einschneidende Auswirkungen auf die beiden im Deutschen Reich befindlichen Luftfahrtforschungseinrichtungen, die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in Berlin-Adlershof und die Aerodynamische Versuchsanstalt (AVA) in Göttingen. Waren bisher vorrangig Luftschiffmodelle, Flugzeuge und Flugmotoren in den Windkanälen von DVL und AVA untersucht worden, so fanden in den 1920er Jahren eine Vielzahl von Studienobjekten Einzug in die Luftfahrtforschungseinrichtungen.

Automobile und Schienenfahrzeuge

1921 ließ Edmund Rumpler (1872–1940) seinen sogenannten Rumpler-Tropfenwagen im Windkanal der AVA untersuchen. Rumpler hatte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Flugzeuge konstruiert und sich danach auf den Automobilbau verlegt. Er wusste, dass sich die aerodynamische Forschung auch auf bodengebundene Fahrzeuge übertragen ließ. Auch andere Firmen, beispielsweise Daimler, erkannten den Wert von professionell durchgeführten Experimenten im Windkanal und ließen in den 1920er und 1930er Jahren eine Reihe von Rennwagenmodellen in der AVA testen.

Ein weiteres Transportmittel, das nach dem Ersten Weltkrieg Einzug in die AVA hielt, war das Schienenfahrzeug. So führte der stellvertretende Leiter der AVA, Albert Betz (1885–1968), bereits um 1920 Reihenmessungen an Lokomotiven mit und ohne Leitbleche zur Reduzierung des Luftwiderstandes durch. Sein Ziel war es, die Energiekosten für den Betrieb von Zügen zu reduzieren. Auch diese Forschungsarbeiten sprachen sich in der Industrie schnell herum und so forschte die AVA bald schon nicht mehr nur an Lokomotiven und Tenderwagen, sondern auch an Zugbremsen in Form von Sandstreuern für Straßenbahnen – eine Auftragsarbeit der Berliner Straßenbahn Betriebs-GmbH aus dem Jahr 1928.

Stromlinienverkleidete Lokomotive um 1920
Die Leitbleche beeinflussen den Fahrtwind so, dass der aus dem vorn liegenden Schornstein ausgestoßene Rauch und Abdampf von den Fenstern des Führerstandes weggelenkt werden. Ähnliche Versuche wurden in den 1930er Jahren beispielsweise für die Firma Henschel durchgeführt.

Windräder

Parallel zur Forschung an Schienenfahrzeugen widmete sich Betz der Untersuchung von Windrädern. Er wollte sie zur Energiegewinnung einsetzen. Infolge der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen zwischen 1923 und 1925 war Kohle als Energieträger im Deutschen Reich sehr teuer geworden, sodass die Suche nach alternativen Energiequellen ein wichtiges Forschungsgebiet darstellte. Betz hatte sich vor und während des Ersten Weltkriegs eingehend mit der Formgebung von Propellern befasst und übertrug diese Erkenntnisse nun auf Windräder. Seine sogenannte Tragflügel-Theorie zur Formgebung von Rotorblättern hat bis heute Bestand. Er formulierte sie erstmals in seinem 1926 veröffentlichten Buch „Windenergie und ihre Ausnutzung durch Windmühlen“.

Von Staubsaugern und Skispringern

Dummy eines Skispringers im Windkanal
Dummy eines Skispringers im Windkanal der AVA im Jahr 1927. In den späten 1970er Jahren wurde die Untersuchung der Körperhaltung von Skispringern mit Leistungssportlern im Windkanal fortgeführt.

1925 wurden die Restriktionen des Versailler Friedensvertrags schließlich gelockert. Nun konnte auch die zivile Luftfahrtforschung wieder aufgenommen werden. Das verbesserte zwar die finanzielle Situation der AVA in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, doch war die Forschungseinrichtung auch über das Jahr 1925 hinaus stark auf Aufträge außerhalb der Luftfahrtforschung angewiesen. So erwies es sich für die AVA als Glückfall, dass die Staubsaugerindustrie die Windkanalforschung für sich entdeckte. Anders als in Loriots berühmtem Sketch über den Saugblaser Heinzelmann („Es saugt und bläst der Heinzelmann, wo Mutti sonst nur saugen kann“), der als vielversprechendes Kombigerät angepriesen wurde, ging es der Staubsaugerindustrie jedoch nicht um die Entwicklung neuer Geräte, sondern lediglich um die Ermittlung der Luftdurchlässigkeit von Staubsaugerbeuteln. Diese wurde von der AVA bis in die 1930er Jahre akribisch untersucht.

Eine weitere, eher ungewöhnliche Anfrage erreichte die AVA im Jahr 1927 durch den Schweizer Skiverband. Dieser wollte die optimale Körperhaltung eines Skispringers im Flug ermitteln und setzte dabei auf die Hilfe der AVA. Diese fertigte einen entsprechenden Dummy an und vermaß ihn im Windkanal. Bis heute nehmen Skispringer die im Windkanal der AVA ermittelte optimale Körperhaltung im Flug ein, um einen möglichst weiten Sprung zu erzielen. Diese gleicht einem senkrecht gestellten Flügelprofil.

Restriktionen als Chance

Modell einer Zugbremse
Modell einer Zugbremse für eine Straßenbahn, untersucht im Windkanal der AVA im Jahr 1928.

Die Restriktionen, die der AVA im Bereich der Luftfahrtforschung durch den Versailler Friedensvertrag auferlegt worden waren, boten der Forschungsanstalt gleichzeitig die Chance, ihr Kompetenzspektrum zu erweitern. Somit war der Versailler Friedensvertrag für die AVA nicht nur ein Hemmnis, sondern gleichzeitig auch ein Katalysator, von dem die Forschungseinrichtung langfristig profitierte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg fanden eine ganze Reihe ungewöhnlicher Studienobjekte den Weg in die Göttinger Forschungsanstalt. Welche das waren, erfahren Sie in der nächsten Ausgabe des DLRmagazins.

Ein Beitrag von Dr. Jessika Wichner aus dem DLRmagazin 174.

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