Raumfahrt | 11. Juli 2011

Der Ritt auf dem Feuerstrahl - die Atlantis über dem Banana Creek

Das wirklich Aufregende spielt sich alles in gerade mal einer Minute ab um 11.29 Uhr Ortszeit im Kennedy Space Center auf Cape Canaveral in Florida. Aber wie aufregend das dann tatsächlich war - da jubelten die Sinne! Noch den ganzen Tag und noch viel länger geht einem dieser Start des Space Shuttle "Atlantis" durch den Kopf. Ihrem letzten und dem letzten und 135. eines Raumgleiters überhaupt: Aber der erste, den ich selbst erleben durfte. Wurde also höchste Zeit!

Im Fernsehen habe ich diese Starts schon dutzende Male gesehen. Aus allernächster Nähe sieht man da alles, aus einer Perspektive, die natürlich nur mit Aufnahmegeräten möglich ist, die vor den Flammen und den Druckwellen geschützt in der Nähe der Startrampe angebracht sind. Dieser Anblick machte mir schon immer ein wenig frösteln. Aber die Wirklichkeit ist besser, viel besser! Zunächst stehen jedoch kurz vor dem Start in Cape Canaveral 150 Schrecksekunden.

Als der Countdown schon auf 31 Sekunden heruntergezählt war, stand plötzlich die 31 auf der großen Anzeigetafel - aber die 30 kam nicht mehr. Fragende Gesichter allerorten. Abbruch? War das Wetter doch zu schlecht? Ein technischer Defekt? Die wenigsten verstanden die Live-Übertragung aus der Missionskontrolle durch die aufgestellten Lautsprecher. Die Stimmen klangen besorgt, aber unaufgeregt, wie Spezialisten eben klingen, wenn sie etwas Technisches analysieren. Am Shuttle, so wurde uns später gesagt, war alles in Ordnung, aber bei der Überwachung mit den externen Kameras war nicht ganz klar, ob die Haltearme wirklich vom Shuttle weggefahren waren. Die Lage wurde wohl schnell als unkritisch bewertet und die Situation als o.k. eingestuft. Riesenjubel, als die 31 auf einmal auf die 30 sprang, dann auf 29 und 28. Vielleicht hatte es ja geholfen, dass die Amerikaner wenige Minuten zuvor voller Inbrunst und mit der Hand auf dem Herzen ihre Nationalhymne in den heißen Sommerhimmel Floridas geschmettert hatten… aber zunächst hält man erst mal die Luft an.

Dann ging's ganz schnell: Der Startkomplex ist im wahrsten Sinne des Wortes meilenweit weg (geschätzte fünf Kilometer), und die Besucher müssen schon die Augen zusammen kneifen, um das Geschehen mitverfolgen zu können. Trotzdem kann man alles gut erkennen. Nie war mein gutes altes Fernglas wertvoller! Bei Ablauf des Countdowns schießen zunächst gewaltige Dampfwolken von unzähligen Kubikmetern eingesprühten Kühlwassers an der Basis des Startkomplex' in turbulentem Chaos viele hundert Meter weit seitlich heraus. Nach einer riesigen, lautlosen Explosion sieht das aus, weil der Schall ja erst in ein paar Sekunden auf der anderen Seite des Banana Creek, einem Lagunenarm auf dem 500 Quadratkilometer großen Gelände der NASA, der uns vom Startplatz trennt, eintreffen wird, wo wir mit Tausenden anderen Gästen der NASA das Spektakel beobachten. Bevor es laut wird, sieht man aber erst "in Echtzeit" den Feuerstrahl, zunächst als Pünktchen durch die Stahlkonstruktion von Startkomplex 39-B, dann erhebt sich auf diesem kleinen orangefarbenen Fleck der Shuttle aus seiner letzten Verankerung, der Feuerfleck dehnt sich zu einem immer länger werdenden schlanken Strahl aus, auf dem sich das ganze System aus Orbiter, Feststoff-Boostern und dem riesigen externen Flüssigtreibstoff-Tank langsam nach oben schiebt, schließlich aus dem Startkomplex herausschießt und sich wie eine mythische Leuchterscheinung über dem Banana Creek erhebt. Ja, Wahnsinn! Jetzt wird das ganze System "zur Rakete", so, wie man sich das als Kind immer vorgestellt hat: In kürzester Zeit wird der Shuttle auf immer höher werdende Geschwindigkeiten beschleunigt und jagt nun rasend schnell auf seinem Feuerstrahl, vielleicht doppelt so lang, wie der 60 Meter hohe Raumgleiter selbst, fffffft, senkrecht in den Himmel.

Und dann kommt das Beste: das Knattern. Wenn nach etwa zehn Sekunden der Schall am Beobachtungspunkt ankommt, dann stellen sich einem die Haare auf Armen und Beinen auf. Bei tropischen 33 Grad Celsius läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Was für wenige, viel zu schnell vergehende, tief beeindruckende Momente! Denn nach einer halben Minute stößt der Shuttle durch die heute tief hängende Wolkendecke. Begleitet vom lauten Jubel der Gäste auf und vor der Besuchertribüne. Weg ist sie, die Atlantis, aber man hört sie noch, das lauteste Knattern hallt noch lange nach, kein Grollen, eher ein helles, infernalisches Dauergeknalle im Stakkato von Zehntelsekunden.

Ich steh' mit offenem Mund da, setze das Fernglas ab und staune und genieße einfach nur, kann und will mich den umstehenden Mitreisenden gar nicht mitteilen. Dafür ist später Zeit, und im Bus und abends beim amerikanischen Dünnbier geht das Mundwerk dann bei uns allen auch wie geölt. Denn das Grollen und Wummern des Shuttles, der längst schneller als der Schall und Dutzende von Kilometern entfernt aber noch zu hören und scheinbar zu spüren ist, das will ich so lange wie möglich spüren und mitnehmen. Immerhin ist jetzt aber wieder Zeit für einen Atemzug; der letzte dürfte eine gute halbe Minute zurück liegen… Die Wolken sind es, die das ganze Spektakel noch lauter als sonst machen (wir mir die ,alten Hasen' mitteilen; einer erlebt heute seinen 55. Shuttle-Start!), weil sie die nach oben gerichteten Schallwellen auf die Erde zurückwerfen. Nie werde ich diesen durch Mark und Bein dringenden Sound vergessen. Und der Schall sorgt ja auch für eine Vibration der Luft und des Bodens, auf dem man steht. Man spürt also den Start am ganzen Körper, vielleicht nicht so stark, wie man im Nachhinein glaubt, ihn gespürt zu haben, aber im vollen Sinne des Wortes kann ich - für mich - bestätigen: Ein Shuttle-Start, der "berührt" einen, nicht nur die wenigen Momente lang. Das bleibt. Sicher ein Leben lang.

Ich war den ganzen Tag geradezu "high". Und unter Gelächter und Schenkelklatschen fiel abends auch der obligatorische Spruch: "Das ich das noch erleben durfte". Aber so viel Romantik gönne ich mir an diesem denkwürdigen Tag und halte es mit Donovan: "Hail Atlantis!". Und freute mich auch schon, dass ich es nach der Rückkehr, wortgewaltig der Familie mitteilen werde; die erwartete Reaktion: "Papa, jetzt komm mal wieder runter…!"

Aufgeregt war ich freilich schon vor dem Start, wobei: unter Gleichgesinnten muss man ja die Façon wahren und versuchen, so cool wie möglich zu wirken! Der Start war ja weiß Gott zunächst unwahrscheinlich. Denn das Wetter war miserabel, in der Sprache der Missionskontrolle: "30 Prozent ‚go!’, 70 Prozent ,no-go!'" Oder für den späten Donnerstagabend in Prosa ausgedrückt: Es schüttete, was so ein Tropenregen alles hergibt. Ein Hoffnungsschimmer: Als wir um zwei Uhr nachts NASA-TV guckten, lautete die Nachricht: Es wird betankt - ein gutes Zeichen!

Früh um sechs am Freitagmorgen - es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war weiterhin bedeckt - ging es mit dem Bus in Richtung Kennedy Space Center auf der Inselwelt von Cape Canaveral. Fünf Kilometer Stau vor dem Eingangstor. Fast 25.000 seit Monaten angemeldete Besucher ließ die NASA auf ihr Gelände, im Fernsehen sprachen sie von einer Million Zuschauer außerhalb entlang der Straßen südlich und westlich des Capes.
Die drei Stunden bis zum Start vertrieben wir uns mit der Besichtigung der berühmten Saturn 5-Rakete, der gewaltigsten Maschine, die Menschen je für den Sprung ins All gebaut haben und mit der die ersten Mondflüge gelangen. Aufgebahrt wie Lenin im Mausoleum liegt eine der drei nach Abbruch des Apollo-Programms übrig gebliebenen, über hundert Meter langen Raketen in einer Halle im Kennedy Space Center. Ein gewaltiges Monument menschlicher Schaffenskraft.

Unter der mietsblockgroßen ersten Stufe mit ihren fünf Riesen-Raketenmotoren befindet sich an diesem Festtag für die NASA eine Sonderfiliale der amerikanischen Post, bei der man sich Briefe mit einem Shuttle-Motiv abstempeln lassen kann. Daneben ein Souvenirshop, der von den Tausenden regelrecht geplündert wurde: Eine Stunde vor dem Start waren die Regale ratzeputz abgeräumt. Alles umwabert vom beglückenden Duft frischen Popcorns, das eimerweise durch die Halle getragen wurde. Wenn das der gestrenge Herr von Braun, der Vater der Saturn V, hätte erleben müssen… heuer wäre das umstrittene Raketengenie übrigens 99 Jahre alt geworden.

Und nach dem Start? Nach einer Viertelstunde sitzen wir alle wieder im klimatisierten Bus. Alles schnattert, denn jeder hat natürlich den Start ganz anderes erlebt. Viel Technisches wird uns noch von einer jungen Dame der NASA in ehrlicher Begeisterung erklärt, einer Ingenieurin und Spezialistin für die Nutzlasten des Shuttles. Und doch mischt sich in die ganze Freude über den - wegen des wechselhaften Wetters doch fast unerwartet - erfolgten Start freilich auch Wehmut: Alle wissen es, es war der letzte Start nach einer 30jährigen Epoche des noch jungen Raumfahrtzeitalters, und bei der NASA entsteht durch den Wegfall dieses "Raumtransportsystems" (STS steht nüchtern für Space Transport System) eine Lücke bei den Trägersystemen für den bemannten Zugang ins All, den sie durch die Vergabe von Aufträgen an private Unternehmen möglichst schnell schließen will. Doch nur die wenigsten werden das Kennedy Space Center der NASA nutzen. Deshalb werden in den kommenden Wochen hier tausende Arbeitsplätze bei der NASA abgebaut, auf eine drastische Art, wie wir Europäer uns das nicht wirklich vorstellen können. "We will see what comes", sagt die Ingenieurin mit einem Schulterzucken. Sie sei fürs Erste nicht betroffen. "Ich will nicht weg hier, ich komme ursprünglich aus Kuba, ich brauche die Wärme. Hoffentlich geht es mit der Raumfahrt am Cape weiter!"

Bilder: DLR.

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