Raumfahrt | 24. Juli 2014 | von Jan Wörner

Ausweichen, bevor es kracht!

Bei meinem Auto merke ich schon bei 100 Kilometern pro Stunde, dass ich ganz schön schnell unterwegs bin. In der schönen Limousine unserer Fahrbereitschaft gehen auch schon einmal 160 Stundenkilometer, ohne dass man die Geschwindigkeit irgendwie groß merkt. Klar, denn Geschwindigkeit alleine kann man praktisch nicht wahrnehmen. Beschleunigungen ja, aber wenn man konstant unterwegs ist, merkt man nur relativ zu anderen Dingen, wie schnell man ist. Oder eben daran, dass das Auto zu klappern beginnt. Ähnlich ist es bei der ISS. Die Geschwindigkeit der Raumstation ist noch wesentlich höher - hier braucht es 28.000 Kilometer pro Stunde, damit die Station nicht "herunterfällt".##markend##

Aber die Astronauten merken von dieser gigantischen Geschwindigkeit praktisch nichts - solange sie nicht aus dem Fenster schauen und ganze Erdkontinente im Minutentakt vorbeiziehen sehen. Oder solange ihnen nichts mit einer anderen Geschwindigkeit "in die Quere" kommt... Leider passiert so etwas hin und wieder: Immer wieder kreuzen entweder natürliche Kleinmeteorite oder von Menschenhand hergestellte Bruchstücke vergangener Weltraummissionen die Bahn der ISS. Um einen Zusammenstoß zu vermeiden, überwachen die Raumfahrtagenturen den erdnahen Bereich des Weltalls, haben alle größeren Teile mit ihren Bahndaten in riesigen Katalogen erfasst und können daher relativ genau vorhersagen, wann es zu einem "Beinahezusammenstoß" mit der ISS kommen könnte. Ergibt sich, dass eines der Partikel "im Visier" der Flight Controller mit einer Wahrscheinlichkeit größer als 0,01 Prozent in die "Bannmeile" um die ISS  eindringen würde, dann fliegt die ISS ein Ausweichmanöver. Dabei handelt es sich meistens um eine Anhebung ihrer Umlaufbahn, um gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

Gestern war es wieder einmal soweit: Viele Stunden im Voraus war schon die Warnung hereingekommen, dass ein Teil einer ausgebrannten russischen Raketenstufe, die vor etwa zwei Jahren Satelliten ins All transportiert hatte, auf Kollisionskurs mit der ISS war. Die Bahn des Bruchstücks war allerdings schwer vorherzusagen: Die äußerst dünnen Reste der Erdatmosphäre beeinflussten den Kurs immer wieder stark, so dass sich bei den für jede Erdumkreisung nun durchgeführten Radarmessungen starke Unsicherheiten der Bahn ergaben - immer wieder ein Trend zum Besseren, dann wieder eine "rote Warnung" mit relativ hoher Kollisionswahrscheinlichkeit.

Gerade wegen dieses unberechenbaren Verhaltens wurde beschlossen, dass ein Ausweichmanöver ("Debris Avoidance Maneuver"- DAM) der ISS nötig wäre - ein etwas aussergewöhnliches Manöver, denn die ISS wurde für das bevorstehende Andocken des Progress-Raumschiffs in einer ungewöhnlichen Lage gebracht: Sie fliegt verkehrt herum - und damit konnten die Standardpläne, die wir für solche Situationen in unseren Schubladen haben, nicht verwendet werden. Das Manöver musste genau auf die momentane Lage zugeschnitten werden - kein Problem, aber jede Menge Arbeit, besonders bei unseren amerikanischen und russischen Kollegen. Wir konnten auch nicht wie üblich die Düsen der Versorgungsraumschiffe nutzen, denn da ist keines: Das eine wartete noch auf seinen Start, das andere war schon unterwegs zum Verglühen in der Erdatmosphäre. Deswegen musste das russische Service Module (SM) den notwendigen Schub liefern. Üblicherweise ziehen wir ein Beschleunigen der Raumstation zum Ausweichen vor - diesmal mussten wir abbremsen, also die ISS-Bahn etwas absenken, um rund 800 Meter.

Der deutsche ESA-Astronaut Alex Gerst ließ uns netterweise daran teilhaben, wie sich ein solches Bremsmanöver auf der ISS anfühlt: Kurz vor dem "Burn" bat er uns, die Kameras in Columbus einzuschalten - und was wir dann sahen, wirkte so, als ob im Moment der Zündung eine leichte Schwerkraft eingeschaltet würde. Plötzlich bewegte sich alles frei bewegliche inklusive Alex im Feld der Kamera in eine Richtung und diese überraschende "Kraft" hielt für die Dauer von etwa 30 Sekunden des Triebwerkbrennens an. Womit dank Alex auch bestätigt wäre, was am Anfang des Blogs erklärt wurde: Schwerelosigkeit trotz der unglaublichen Geschwindigkeit von 28.000 Stundenkilometern, aber schon eine moderate Beschleunigung macht dieser ein Ende. Quod erat demonstrandum.

Blick aus der Cupola
Quelle: NASA
Nichts ist bei diesem Foto - aufgenommen aus dem Fenster der Cupola - von den vielen Bruchstücken zu sehen, die die Erde umkreisen und der ISS gefährlich werden können.
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Über den Autor

Als Kind wollte Tom Uhlig Astronaut werden. Beim DLR kam er dabei seinem Traum sehr nahe: Er arbeitete als Columbus-Flugdirektor an der Konsole und leitete sowohl das Col-CC-Trainingsteam als auch Gruppe für den Betrieb von geostationären Satelliten bis Dezember 2016. zur Autorenseite