Raumfahrt | 09. November 2012 | von Jan Wörner

Eine heiße Debatte um eine kalte Kartoffel

In den letzten Wochen war es ruhig in meinem Blog. Der Grund dafür: Hektik. Viele Termine und Ereignisse - von der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung ILA über den International Astronautical Congress (IAC) in Neapel bis hin zu DLR-Interna - haben mein durch die Erdrotation verfügbares Zeitkontingent vollends aufgebraucht. Ein besonders wichtiges Ereignis ist die bevorstehende ESA-Ministerratskonferenz, die vom 20. bis 21. November 2012 in Neapel stattfinden wird. Diese Konferenz wird in Bezug auf eine Reihe offener Fragen zu einer Richtungsentscheidung hochstilisiert.

Derzeit laufen die Vorbereitungen auf vollen Touren: Wöchentlich finden Treffen der ESA-Delegationen als so genannte "Council Working Groups" oder als formaler "ESA-Rat" statt, um die verschiedenen Resolutionen und Deklarationen vorzubereiten. Daneben: bilaterale Beratungen zur Behandlung spezieller Themen. So weit so gut und sicherlich wichtig und richtig. Themen wie die Zukunft des europäischen Trägersystems oder der Nutzung der Internationalen Raumstation ISS werden kontrovers diskutiert, mit schrittweiser Annäherung der Positionen und hoffentlich rechtzeitiger Einigung.

Gleichzeitig dominiert das Thema der zukünftigen Beziehung zwischen der Europäischen Weltraumorganisation ESA und der Europäischen Union (EU) bzw. der Europäischen Kommission die Bühne. Auf beiden Seiten werden Papiere formuliert, die als "Resolution" oder als "Kommunikation" den Weg weisen sollen. Dabei werden sehr dogmatische Positionen eingenommen und mit großer Ernsthaftigkeit als die "wahren Lösungen" der Annäherung beider Seiten vorgestellt. Eine analytische Betrachtung der verschiedenen Akteure, der legalen Grundlagen ihrer Papiere und der jeweiligen Kompetenzen führt bei ruhiger Betrachtung nicht in deren proklamierte Richtungen.

ESA-Ministerratskonferenz in Den Haag, November 2008. Bild: ESA.
ESA-Ministerratskonferenz in Den Haag, November 2008. Bild: ESA.

Zunächst ist da ESA mit ihrer fast 50jährigen erfolgreichen Geschichte als direkt durch die Delegationen der Mitgliedsländer gesteuerte europäische Raumfahrtagentur mit klaren industriepolitischen Vorgaben, die besonders für die Raumfahrt unerlässlich sind. Hier ist die interne Aufteilung in Pflicht- und Wahlprogramme weiterhin zukunftsfähig.

Ebenso hat die Europäische Kommission, als Organ tätig im Auftrag der Europäischen Union, in der Vergangenheit erfolgreich bewiesen, dass sie in verschiedenen Bereichen und insbesondere in der Forschungsförderung mit ihren Instrumenten, die im wesentlichen auf Wettbewerb basieren, für Europa wirken kann.

Die Probleme der aktuellen Diskussion sind Kommunikations- und Selbstverständnisprobleme der Agierenden: Man beruft sich beiderseits auf den Vertrag von Lissabon und die darin festgelegten Zuständigkeiten. Die Europäische Kommission liest daraus den absoluten Anspruch der Formulierung der europäischen Raumfahrtpolitik und der umfassenden Zuständigkeit für sich ab. ESA hingegen beharrt auf ihrem zwischenstaatlichen Fundament, ihrer in der Konvention auch für den Bereich der Raumfahrtpolitik definierten Aktivitätsbereich und der im Vertrag von Lissabon ausdrücklich genannten parallelen Zuständigkeit.

Das Anfassen dieser angeblich so heißen Kartoffel erhitzt die Gemüter völlig grundlos: Selbstverständlich sollte ESA ihre erfolgreichen Instrumente, die über industriepolitisch wichtige so genannte "Geo-Return"-Regeln und Programmräte hinausgehen, nicht aufgeben. Die Forderung der Europäischen Kommission nach Übernahme aller EU-Regeln läuft hier ins Leere und kann schaden. Gleichwohl ist es wichtig, die Verbindung zwischen ESA und EU für die Zukunft fit zu machen. Die einfachste, aber vielleicht gerade deshalb in den Kreisen der berufsmäßigen Diskutanten nicht angegangene Lösung ist ein eigenes EU-Programm in der ESA. Darin können die Projekte der Kommission nach EU-Regeln bearbeitet und mit der vorhandenen Kompetenz der ESA als Raumfahrtagentur realisiert werden. Dieser Programmbereich könnte administrativ durch ein eigenes Direktorat unter dem Dach der ESA verantwortet werden.

Bleibt die Frage der Zuständigkeit für die Europäische Raumfahrtpolitik - oder etwas konkreter - für die Formulierung von Empfehlungen zur Koordinierung der nationalen und supranationalen Raumfahrtaktivitäten. Auch hier bedarf es keiner neuen institutionellen Klimmzüge. Der Weltraumrat als gemeinsames Instrument der ESA und der EU ist bereits geübte Praxis.

Statt also weiter heiße Debatten um eine kalte Kartoffel zu führen, gilt es neben den pragmatischen Ansätzen zur Stärkung der institutionellen europäischen Raumfahrt die einzelnen, wirklich wichtigen und nicht trivialen Themen zu Lösungen zu treiben: Die Entscheidungen für die Zukunft der Trägerraketen, der Raumstation und anderer Aktivitäten erlauben keinen Aufschub, will man die Wettbewerbsfähigkeit Europas erhalten und stärken.

Bild oben: Flaggen der ESA-Mitgliedsstaaten. Bild: ESA.

 

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Über den Autor

Im Jan-Wörner-Blog bloggte der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), Prof. Dr.-Ing. Johann-Dietrich "Jan" Wörner, selbst. Seit dem 1. Juli 2015 ist er Generaldirektor der Europäischen Weltraumorganisation ESA. zur Autorenseite