31. März 2017 | Phonetik trifft Rocket Science

DLR-Institut für Raumfahrtantriebe unterstützt Sprachwissenschaftler

Sprache ist ein erstaunliches Kommunikationsmittel – bei ihr zählt jedes Detail. Um den Sprachprozess besser analysieren zu können, erproben Sprachwissenschaftler der Universität Tübingen nun das Schlierenmessverfahren. Dieses Messverfahren spielt in der Luft- und Raumfahrt bei der Visualisierung von Temperatur- oder Druckunterschieden in Gasen eine wichtige Rolle. Gemeinsam mit Wissenschaftlern des Standorts Lampoldshausen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) hat ein Team von Sprachwissenschaftlern in einer Messreihe untersucht, inwieweit die Schlierenmesstechnik die Kenntnis über die dynamischen Prozesse, die während des Sprechens entstehen, verbessern kann.

Sprachaufnahmen zwischen Unilabor und Triebwerksprüfstand

Wie funktioniert Sprache? Zunächst denken wir an eine Bedeutung, die wir einem Zuhörer mitteilen wollen. Dann steuert das Gehirn die Sprechwerkzeuge, wie Lunge, Stimmlippen, Kiefer, Zunge und Lippen, so, dass ein verständliches sprachliches Signal entsteht. Während die Vibration der Stimmlippen die Luft um uns herum mittels Schallwellen zum Schwingen bringt, verändern die Bewegungen der Artikulatoren die Eigenschaften des Schalls. Im Laufe der letzten 150 Jahre entwickelte die Phonetik viele Methoden, um Sprachproduktion und Sprachsignale zu analysieren. Das einfachste Prinzip ist die Aufnahme mittels Mikrofon, die es den Forschern erlaubt, Veränderungen in der Frequenz- und der Zeitstruktur im Sprachsignal mit den Vorgängen während der Sprachproduktion in Einklang zu bringen. Das Mikrofon ermöglicht allerdings nur eine punktuelle Aufnahme im Raum. Wie können Sprachwissenschaftler nun ein besseres Verständnis über die dynamischen Prozesse, die während dem Sprechen in der Luft um den Mundbereich entstehen, erhalten?

Dieser Frage kam Dr. Fabian Tomaschek, Sprachwissenschaftler an der Universität Tübingen, während eines Besuchs beim DLR Lampoldshausen einen Schritt näher. Die Idee: das sogenannte Schlierenmessverfahren einzusetzen, um dynamische Prozesse in der Luft zu visualisieren. Das Messverfahren ist zwar eine untypische Methodik in der Phonetik, jedoch für die DLR-Wissenschaftler des Instituts für Raumfahrtantriebeein bewährtes und schnell anwendbares Verfahren, um Strömungsphänomene in Gasen sichtbar zu machen. Diese Expertise und das Know-how jahrelanger Forschungs- und Entwicklungsarbeit machte sich der Sprachwissenschaftler zu Nutze.

Eine detaillierte Versuchsreihe am DLR-Prüfstand M11.1 lieferte erste wissenschaftliche Erkenntnisse: Das Linguistenteam aus Fabian Tomaschek, Denis Arnold und Tino Sering visualisierte gemeinsam mit dem DLR-Forscher Friedolin Strauss circa 60 Wörter, die nahezu alle Laute der deutschen Sprache beinhalten. Der Datensatz entspricht einer Minute Sprachmaterial und mehreren hundert Gigabyte an Hochgeschwindigkeitsaufnahmen. „Die Messungen sind reine Grundlagenforschung“, so Fabian Tomaschek, „Bisherige Verfahren haben entweder nur punktuell gemessen, oder den Sprachvorgang und damit den Luftstrom beeinträchtigt. Das Schlierenmessverfahren ermöglicht uns, die dynamischen Veränderungen zu untersuchen, ohne dass der Sprecher seine Sprechweise dem Apparat anpassen muss. Dadurch ist es zum ersten Mal möglich, die Luftströmungen des gesamten Lautrepertoires zu kartographieren.“

Verborgene Prozesse während des Sprechens aufspüren

In Kombination mit einer Schlierenoptik ermöglicht die Hochgeschwindigkeitskamera bei einer Geschwindigkeit von 10.000 Bildern pro Sekunde, die dynamischen Prozesse in der Luft um den Mundbereich mit einer zeitlichen Auflösung von 100 Mikrosekunden (= 0,1 Millisekunden = 0.0001 Sekunden) aufzunehmen. Dadurch werden die Bewegungen von Kiefer und Lippen in ihrer Koordination mit der Nase in einem bisher unerreichten zeitlichen Detailgrad veranschaulicht. Tomaschek ist von dem guten Ergebnis beeindruckt: „Wir haben bereits bei der ersten Sichtung des Materials gesehen, dass die Struktur der Luftverwirbelungen in einem Bereich von drei bis vier Zentimetern um den Mund grundlegend unterschiedlich ist. Beispielsweise bildet sich bei der Produktion des Lauts „[fa]“ durch die zusammengepressten Lippen ein Jet, während bei der Öffnung der Lippen zu einem „[pa]“ die dynamische Veränderung regelrecht einer Mikro-Explosion gleicht.“ Auch Friedolin Strauss ist von der Zusammenarbeit begeistert: „Ich unterstütze gerne Forschungsvorhaben aus anderen Fachbereichen, wenn Werkzeuge und Messverfahren, die wir in der Luft- und Raumfahrttechnik wie selbstverständlich anwenden, dazu dienen können, wissenschaftliches Neuland zu betreten.“

Bei der Aussprache des Lautes [pa] entsteht direkt am Mund eine regelrechte Mikro-Explosion. Quelle: DLR / Universität Tübingen (CC-BY 3.0)

Forschung für die Antriebe von morgen – der Prüfstand M11.1

Das Schlierenverfahren wird am Prüfstand M11.1 genutzt, um Phänomene in Überschallströmungen von Staustrahltriebwerken sichtbar zu machen. Der Prüfstand verfügt über einen Wasserstoff-Sauerstoff-Lufterhitzer, der Druckluft auf Totaldrücke von bis zu 25 bar und Totaltemperaturen von bis zu 1500 Kelvin aufheizen kann. Mit einem Massenstrom von bis zu fünf Kilogramm pro Sekunde simuliert er die notwendigen Randbedingungen für überschallverbrennende Staustrahltriebwerke, den sogenannten Scramjets, wie sie bei einem schnellen Flug in großer Flughöhe auftreten würden. Nur so sind Bodentests möglich, da solche Triebwerke im Gegensatz zu den vom Passagierjet bekannten Turboluftstrahltriebwerken die Luft nicht mechanisch verdichten, sondern über Verdichtungsstöße im Triebwerkseinlauf. Scramjets sind jedoch sehr hohen Temperaturen und Wärmeeinträgen ausgesetzt.

Unsichtbares sichtbar machen – das Schlierenverfahren

Die Grundlagen des Schlierenverfahrens gehen auf Robert Hooke zurück, der damit bereits im 18. Jahrhundert heiße Gasströmungen um eine Kerzenflamme visualisierte. In den folgenden Jahrhunderten wurde das Verfahren verbessert, sodass der Wärmefluss über einer Hand sichtbar gemacht werden konnte. Ludwig Prandtl, einer der bekanntesten Strömungstheoretiker der Welt, führte das Verfahren im 20. Jahrhundert als eines der wichtigsten Messwerkzeuge in seinem Labor ein. Besondere Beachtung wurde dem Schlierenverfahren durch die Ballistiker während der zwei Weltkriege geschenkt, da es die Visualisierung von Stößen und Expansionen in Überschallströmungen von Geschossen und Raketen ermöglichte. Nach dem zweiten Weltkrieg trieb die Entwicklung von Überschallflugzeugen und größerer Raketen die Anwendung und Verbesserung des Schlierenverfahrens weiter voran. Sie ermöglichte es, die während des Überschallfluges auftretenden Strömungsphänomene im Windkanal zu erforschen.

Das Verfahren basiert auf der Eigenschaft von Gasen und Flüssigkeiten, einfallendes Licht unterschiedlich stark zu brechen und abzulenken, wenn sich ihre Dichte ändert. Dieses Phänomen lässt sich gut in einer sternenklaren Nacht beobachten, in der das Sternenlicht „blinkt“: Es wird durch Dichteschwankungen in der Atmosphäre unterschiedlich stark gebrochen. Beleuchtet man eine Gasströmung mit einer punktförmigen Lichtquelle (sozusagen der Stern), sorgen Dichteunterschiede, ausgelöst beispielsweise durch Verdichtungsstöße in einer Überschall-Gasströmung, für eine unterschiedlich starke Brechung der Lichtstrahlen in der Untersuchungszone. Wenn man nun das Licht aus der Untersuchungszone mit einer Linse bündelt, liegen die Lichtstrahlen des gebrochenen, abgelenkten Lichts nicht mehr im Brennpunkt der Linse, während die ungebrochenen, nicht abgelenkten Lichtstrahlen weiterhin im Brennpunkt gesammelt werden. Eine Schneide, beispielsweise eine Rasierklinge, im Brennpunkt des Lichtstrahls blockt nun den ungebrochenen, nicht abgelenkten Lichtanteil ab, während die gebrochenen Lichtstrahlen daran vorbeikommen und mit einer Kamera festgehalten werden können. Dadurch werden Dichteänderungen im Medium als Schlieren und Linien auf dem Bild sichtbar. Kombiniert mit einer Hochgeschwindigkeitskamera bietet das Schlierenverfahren eine einzigartige Möglichkeit, Strömungsvorgänge und -phänomene, die zu schnell für das menschliche Auge ablaufen und deshalb verborgen bleiben würden, zu visualisieren.

Kontakt

Friedolin Strauss

Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Institut für Raumfahrtantriebe
Satelliten- und Orbitalantriebe
Im Langen Grund, 74239 Hardthausen

Dr. Fabian Tomaschek

Universität Tübingen
Quantitative Linguistik

Dr. Lukas Werling

Stellvertretende Abteilungsleitung
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Institut für Raumfahrtantriebe
Satelliten- und Orbitalantriebe
Im Langen Grund, 74239 Hardthausen

Anja Kaboth

Kommunikation Lampoldshausen
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Kommunikation
Im Langen Grund, 74239 Hardthausen
Tel: +49 6298 28-201