DLR Magazin 139 - page 16-17

Nach 31 Parabeln mit jeweils 22 Sekunden Schwerelosigkeit geht der
erste von drei Flugtagen zu Ende – das Team aus Wissenschaftlern,
Probanden und Piloten ist mit den Forschungsergebnissen der 22.
Parabelflugkampagne des DLR mehr als zufrieden
der Universität Tübingen. Damit ist die „Acker-Schmalwand“ also
eine gute Bekannte für die Biologen – und offenbart vielleicht
so am besten, welche Gene für die Wahrnehmung der Schwer-
kraft zuständig sind und woher beispielsweise das Kalzium in ih-
rem Inneren stammt, dessen Konzentration in den schwerelosen
Phasen extrem ansteigt. 36 Flaschen mit Zellen fliegen deshalb
im Steil- und Sturzflug mit. Zum Vergleich mit dem Unkraut ist
auch eine Nutzpflanze mit an Bord: Eine brasilianische Wissen-
schaftlerin kümmert sich um Zellkulturen des Zuckerrohrs. Svenja
Fengler sitzt mittlerweile bewegungslos auf den weichen Boden-
matten. „Pull out“. Mit einer Hand stützt sie sich an den mit
Schaumgummi umwickelten Gerätekanten der Anlage ab. Noch
vor dem Flug hatte ein Team von zwölf Sicherheitsbeauftragten
jedes einzelne Instrument noch einmal genau kontrolliert. Gibt
es Teile, die bei Schwerelosigkeit herrenlos durch den Flieger
schweben könnten? Sind alle scharfen Kanten entschärft, damit
selbst beim Plumps in die zweifache Schwerkraft sich niemand
mehr als blaue Flecken holen kann? Jedes Experiment an Bord
hat einen großen roten Notknopf. Ein Druck und das Experiment
stoppt – eine Vorsichtsmaßnahme, falls Elektrizität, Röntgen-
strahlen oder Flüssigkeiten außer Kontrolle zu geraten drohen.
Während die Zellkulturen zum ersten Mal die Schwere­
losigkeit erfahren, schwebt nur wenige Meter weiter Schwere-
los-Profi Hans Schlegel erneut durch den Flieger. 1993 flog er
mit der Spacelab-D2-Mission ins All, 2008 brachte er das euro-
päische Forschungslabor Columbus zur Internationalen Raum-
station. „Der Körper erinnert sich auch wieder an die Schwere-
losigkeit“, wird er später sagen, wenn der Parabelflieger wie-
der auf festem Boden gelandet ist. Jetzt allerdings konzentriert
er sich ausschließlich auf das, was Astronauten aus dem Effeff
können: Schweben ohne Angst.
Herzschlag für Herzschlag
Das einzige, was ihn jetzt noch beschleunigt, ist sein eige-
ner Herzschlag. Peter Gauger vom DLR-Institut für Luft- und
Raumfahrtmedizin steht, am Boden verankert, neben ihm, lenkt
den Astronauten vorsichtig von der Decke weg und steht für
den Übergang in die doppelte Schwerkraft bereit. Nur wenn
Schlegel ganz ohne äußere Einflüsse ungehindert schwebt, kön-
nen die Sensoren an seinem Körper aufzeichnen, mit welcher
Kraft sein Herz mit jedem seiner Schläge Blut in die großen Ge-
fäße katapultiert. 1993, während der D2-Mission, hat er dieses
Experiment bereits einmal im Spacelab durchgeführt. Nun soll
die einfache Methode der Ballistokardiografie optimiert und
auch auf der Internationalen Raumstation eingesetzt werden.
desinfiziert und die Spritze mit Scopolamine gesetzt. „Hilft gegen
Reiseübelkeit.“ Und schon hielt der nächste Wissenschaftler seinen
Arm für die hilfreiche Medizin hin.
Pünktlich um 9 Uhr hatten sich dann die Türen des Fliegers
hinter den Wissenschaftlern geschlossen und der „Zero-G“
hatte zum Parabelflug durch die Schwerelosigkeit abgehoben.
Seit 1984 haben die europäische Raumfahrtagentur ESA und
die franzö­sische Raumfahrtagentur CNES, seit 1999 auch das
Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, bereits 120 Parabel-
flugkampagnen durchgeführt. In den vergangenen 28 Jahren
sind so 1.400 Experimente mit dem „Zero-G“ durch die Schwere-
losigkeit geflogen. Dieses Mal sind elf Experimente an Bord.
Ein Ackerunkraut als Proband
Die zweite Parabel beginnt. Svenja Fengler hat sich mit
ihren Füßen in den Bodenschlaufen verankert und steckt mit
beiden Handschuhen in einer Probenbox. Für Arabidopsis thalia-
na gibt es jetzt eine Spritze mit Chemikalien. Das unscheinbare
Ackerunkraut ist wie für den Parabelflug geschaffen: „Das Ge-
nom liegt komplett sequenziert vor“, sagt die Wissenschaftlerin
Das Wissenschaftler-Team ist international: Amerikaner, Belgier
und Deutsche arbeiten zusammen. „Wir wollen damit später
auf der ISS prüfen, ob ein mehrmonatiger Aufenthalt im All sich
auf die Herztätigkeit auswirkt“, sagt Gauger.
Nach der sechsten Parabel folgt eine Pause. Fünf Minuten
lang wird der „Zero-G“ nun wie ein normales Linienflugzeug
seine Bahn ziehen. Im Flieger wird es unruhig. Proben werden
gewechselt, Prozeduren verbessert und für einen Moment lang
das erste Fazit gezogen. Für einige sind die fünf Minuten auch
die kostbare Pause, in der ihr Körper sich erholen kann. Ob das
eigene Gleichgewichtsorgan mit dem Auf und Ab zurecht-
kommt, lässt sich kaum beeinflussen. Im Team von Alexander
Piehl legt sich der erste Wissenschaftler flach auf den Boden.
„Dieses Mal klappt es schon viel besser als bei den vergangenen
Flügen“, beteuert er. Nach weiteren fünf Parabeln wird er sich
von Bordarzt Thierry Leraitre noch einmal eine Spritze gegen die
Übelkeit setzen lassen – und dann für weitere 20 Parabeln die
nichtlinearen Wellen in staubigen Plasmen unter Schwerelosig-
keit untersuchen. „Das Experimentieren in Schwerelosigkeit ist
wichtig“, sagt er, „und macht selbst dann noch Spaß, wenn
man es nicht ganz so gut verträgt.“
Kaum jemand will auf die Gelegenheit verzichten, seine
Forschung unter Bedingungen durchzuführen, die nur selten an-
geboten werden. Vier bis neun Sekunden Schwerelosigkeit sind
im Fallturm des ZARM in Bremen möglich, sechs bis zwölf Minu-
ten erreicht eine Höhenforschungsrakete. Dann folgen schon
Satelliten und die Internationale Raumstation mit Wochen und
Monaten der Schwerelosigkeit. „Die Parabelflüge sind eine gute
Möglichkeit, mehrfach 22 Sekunden ohne den Einfluss der Gra-
vitation experimentieren zu können, ohne lange Vorbereitungs-
zeiten“, sagt Dr. Ulrike Friedrich, Projektleiterin für die Parabel-
flüge im DLR. Wer Anträge für einen Mitflug einreicht, muss
damit eine Jury aus externen Experten überzeugen. „Viele Wis-
senschaftler machen auch ganze Experimentreihen und fliegen
auf mehreren Kampagnen mit.“
Tückische Übung für die Gleichgewichtskontrolle
Wie zum Beispiel Ramona Ritzmann von der Albert-Ludwigs-
Universität Freiburg. Die Sportwissenschaftlerin schwebt professio-
nell, während ihr Proband in der Schwerelosigkeit auf einem Bein
balanciert. Die Platte, auf der er steht, setzt auf Überraschungen:
Mal schlägt sie nach vorne aus, mal rutscht sie zur Seite. Wenn
Astronauten im All arbeiten und leben, verschlechtert sich ihre Be-
wegungs- und Gleichgewichtskontrolle. Gehen oder aufrechtes
Stehen ist dann nach der Rückkehr auf die Erde ohne Hilfe kaum
möglich. „Im Weltall verlernt man vieles“, sagt Ramona Ritzmann.
Proband Yannik Kupfer ringt gerade um Standfestigkeit. Jedes
Ausbalancieren auf der tückisch freischwingenden Platte liefert
den Sportwissenschaftlern Daten über seine Muskelaktivitäten
und seine Reflexbahnen. Die Phase mit der doppelten Schwer-
kraft beginnt. Yannik plumpst auf seinen Sitz zurück, Ramona
Ritzmann hüpft schwerfällig in die Luft. Neulingen wird konse-
quent geraten, diese Hyper-G-Phasen lieber ganz ruhig und auf
jeden Fall ohne Bewegungen des Kopfes zu absolvieren. „Mir
macht das zum Glück überhaupt nichts aus“, sagt die Sportwis-
senschaftlerin. Die Ergebnisse des Experiments werden später
auch Menschen in der Rehabilitation helfen.
Die 31 Parabeln vergehen schneller als gedacht. Die rote
Digitalanzeige im Flugzeug zählt jede Parabel auf, schließlich
kommt und geht die letzte Parabel. Alle kehren zu ihren Sitz-
plätzen zurück. Für die Landung gilt wieder Anschnallpflicht
wie im Allerwelts-Linienflug von Köln nach Berlin. Insgesamt
682 Sekunden herrschte Schwerelosigkeit. In der Ankunfts­
halle von Novespace wird Bilanz gezogen. Ein Team hatte
Schwierigkeiten, zwischen den einzelnen Parabeln seine Proben
zu wechseln. Für ein anderes Team war die erste Parabel zu
schnell. Das Team der Freiburger Universität hatte mit einem
defekten Kabel zu kämpfen, das Team des DLR-Instituts für
Materialphysik hatte beim Jungfernflug mit der neuen Röntgen-
anlage X-Rise noch Schwierigkeiten. Auf die Beobachter des
Ackerunkrauts kommt an der heimischen Universität die mona-
telange Auswertung von Zehntausenden von Genen zu. Die
Herzschläge von Hans Schlegel liegen als Zickzacklinie vor den
Wissenschaftlern. Am nächsten Tag wird er nicht schweben,
sondern kontrolliert ein- und ausatmen. Vor der Halle steht der
Flieger geparkt, die Türen sind mittlerweile geschlossen. Morgen
ab 6 Uhr steht wieder ein neuer Flugtag an – dann wird das
Röntgengerät funktionieren, ein anderer Proband wieder balan-
cieren und staubige Plasmen werden erneut Wolken bilden und
dabei fotografiert werden.
Weitere Informationen:
DLR.de/Parabelflug
PARABELFLUG
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Balancieren in der Schwerelosigkeit: Das Team der Albert-Ludwigs-
Universität Freiburg untersucht die Bewegungs- und Gleichgewichts-
kontrolle des Menschen, um so Astronauten, aber auch Patienten in
der Rehabilitation zu helfen
Forschen ohne Bodenhaftung: Während der Proband verschiedene
Aufgaben am Bildschirm durchführt, schwebt der betreuende Wis-
senschaftler der Deutschen Sporthochschule über seinem Kontroll-
Laptop
Die außergewöhn­
lichen Flugmanöver
werden in speziell
festgelegten Gebie-
ten absolviert
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