DLR Magazin 140 - page 16-17

zugleich verlässlich alle Werte zu berechnen, einzelne Manöver
würden jedoch durchaus schon simuliert. Irgendwann, hofft Ralf
Heinrich, soll die numerische Simulationstechnologie erlauben,
den Erstflug eines Fliegers zu simulieren und ihn somit „digital“
zu zertifizieren.
Zeit für einen Technologiesprung
Was die Forscher weltweit antreibt, neben Windkanal-
und Flugversuchen, diesen „dritten Weg“ für die Flugzeug­
entwicklung zu gehen, kann Abteilungsleiter Norbert Kroll in
wenigen Worten zusammenfassen: „Es wird erwartet, dass die
Passagierzahl in den nächsten 15 Jahren auf das Doppelte an-
steigt. Zugleich sollen die Kosten, die Umweltbelastungen und
Risiken drastisch gesenkt werden. So massive Herausforderun-
gen erfordern einfach große Technologiesprünge.“ Er weiß:
„Der Schritt zu einem effizienteren Flugzeug, zu einem ökono-
misch und ökologisch verbesserten Lufttransport, kann nur
über eine bessere, deutlich weiterentwickelte numerische
Simulationstechnologie gelingen.“
Dies bedeute vor allem: Beschleunigung und Qualitäts­
steigerung. Numerische Simulationen, so erwartete man bei Pro-
jektbeginn im Jahr 2007 optimistisch, sollten in den folgenden
15 Jahren etwa 100.000 bis eine Million Mal schneller werden.
„Das war eine große Motivation“, erzählt Stefan Görtz, wissen-
schaftlicher Mitarbeiter der Abteilung C²A²S²E. „Unsere Soft-
ware eine Million Mal schneller laufen zu sehen – diese Vorstel-
lung hat uns begeistert.“
Wandel in der Rechnerarchitektur
Doch die einzelnen Einheiten, die sogenannten Rechen­
kerne, folgten nicht dem bisherigen Trend, immer schneller zu
werden. „Stattdessen wurden es schlichtweg immer mehr“, er-
läutert DLR-Forscher Stefan Görtz. Dieser Wandel in der Rech-
nerarchitektur sei nicht zuletzt den Stromkosten geschuldet ge-
wesen: Statt immens leistungsstarke Rechenkerne immer mehr
Energie verschlingen zu lassen, wurden effizientere Chips in den
Hochleistungsrechner eingebaut – davon aber deutlich mehr. Für
die C²A²S²E-Forscher war es so möglich, am Ende nicht mehr
Kosten für Energie und Rechnernutzung zu verursachen, als der
Flugzeugentwurf mit Simulationen letztlich spart. Damit blieben
sie auf der Zielgeraden zur Entwicklung kostengünstigerer Me-
thoden im Flugzeugentwurf.
„Die Software für unsere numerischen Simulationen musste
nun allerdings erst mal für die neue Rechnerarchitektur angepasst
Rund 60 Wissenschaftler arbeiten jetzt in Braunschweig
und Göttingen in der Abteilung C²A²S²E daran, eine Software-
Plattform zu errichten, mit der komplexe Strömungsverhältnisse
um komplette Flugzeuge simuliert werden können. In verschiede-
nen Teilprojekten befassen sich die Wissenschaftler mit physika­
lischen Problemen und mathematischen Fragestellungen. Die
Vision: sämtliche Kräfte, die auf ein Flugzeug wirken können,
simulieren. „So könnte man jedwede Situation durchspielen“,
erklärt C²A²S²E-Ingenieur Ralf Heinrich. „Man wüsste immer
lange vor dem Erstflug, wie sich das Flugzeug beispielsweise
bei der Landung mit böigem Seitenwind verhält. Bei unbefrie­
digendem oder gar kritischem Verhalten können dann gezielt
Veränderungen am „virtuellen“ Flugzeug vorgenommen und
der Flug im Rechner wiederholt werden, bevor die kostspielige
Fertigung des Flugzeugs beginnt.“
Vision vom Erstflug im Rechner
Ein multidisziplinäres Werkzeug sollte entwickelt werden,
da waren sich die Forscher einig. Denn nicht nur für die Aero­
dynamik, auch für andere Disziplinen, wie die Strukturmechanik,
ist eine Simulationsplattform wie C²A²S²E von enormer Bedeu­
tung. Der große Vorteil der numerischen Simulation: „Man kann
mehr sichtbar machen als in herkömmlichen Experimenten. Ins-
besondere Änderungen der Flugzeuggeometrie, die im Experi-
ment mit hohen Kosten verbunden wären, lassen sich leicht vor-
nehmen“, so Heinrich. Mit den Simulationsergebnissen lassen
sich experimentelle Untersuchungen – etwa im Windkanal –
dann viel gezielter planen. Die numerische Simulation ermög-
licht somit nicht nur sehr detaillierte Einblicke, sondern soll vor
allem Kosten und Zeit sparen.
Ein Beispiel aus Heinrichs Arbeit: In einer computerge­
stützten Rechnung gelang es ihm, die Begegnung eines Airbus
vom Typ A340 mit einer Windböe zu simulieren. Ziel war es,
genau vorherzusagen, welche Belastungen für ein Flugzeug
in solch einer Situation auftreten. Mit derartigen Simulationen
können die Kräfte, die auf ein Flugzeug wirken, sowie das Ver­
halten der Maschine deutlich genauer vorhergesagt werden als
mit den derzeitig in der Industrie für den Flugzeugentwurf ver­
wendeten Software-Werkzeugen. „Ein wesentlicher Bestandteil
des C²A²S²E-Vorhabens war es, eine derartige Vorhersagefähig­
keit zu entwickeln und der Luftfahrtindustrie zur Verfügung zu
stellen“, sagt Heinrich mit Blick auf die simulierte Windböe, die
in einer Animation auf seinem Bildschirm gerade auf das virtu­
elle Flugzeug trifft. Zwar sei man noch weit davon entfernt, ein
„digitales Flugzeug“ wie in einem Flugsimulator mal eben mit
dem Joystick durch alle möglichen Situationen zu bewegen und
beziehungsweise weiterentwickelt werden“, beschreibt Görtz
weitere Inhalte der wissenschaftlichen Arbeit in den vergangenen
Jahren. Wenn der Numeriker heute eine seiner Rechnungen mit
zum Teil 500 Millionen Unbekannten über Nacht am Computer
durchlaufen lässt, dann nutzt er nicht mehr einige wenige Rechen-
einheiten, sondern gleich mehrere tausend Rechenkerne. Ein
großer Fortschritt, der jedoch auch mit großen Kosten verbun-
den ist. Vor allem, da der Trend hin zur Simulation komplexer
Manöver oder gar zu ganzen Simulationskampagnen geht.
Hier setzen die Forscher mit einer weiteren Strategie an: Sie
entwickeln sogenannte Ersatzmodelle. Um nicht mehr alle
Rechnungen im kleinsten Detail durchführen zu müssen,
werden hochgenaue Rechnungen nur an einigen Punkten
im Parameterraum durchgeführt.
Mit den Ergebnissen dieser wenigen teuren Rechnungen
wird dann ein mathematisches Modell gefüttert, das innerhalb
von Sekunden ausgewertet werden kann. So schaffen sie An­
näherungsmodelle, die zwar mit wenigen Rechnungen erstellt,
danach aber für viele Millionen Simulationsszenarien genutzt
werden können. Für Stefan Görtz und seine Kollegen in einer
der größten Abteilungen des Instituts tagtäglich eine spannende
Aufgabe. Denn mit der Simulation optimaler Flugbedingungen
gibt sich hier niemand mehr zufrieden: „Wir tasten uns von den
optimalen Zuständen im Reiseflug an die Grenzen des Flugbe­
reichs heran“, so Görtz. Die aerodynamischen Phänomene in
diesen Grenzbereichen zu simulieren, das gesamte „digitale
Flugzeug“ im Rechner zu fliegen, das sei die große Herausforde­
rung über das Ende des Projekts C²A²S²E hinaus. Daher sollen
die Forschungsarbeiten im Anschluss an die vom Land Nieder­
sachsen geförderte Projektphase in den kommenden Jahren
auch auf jeden Fall fortgeführt werden: durch das HGF-finan­
zierte DLR-Projekt „Digital-X“.
So realitätsnah wie möglich
Ein digitales Flugzeug? – „Darüber denken wir mittler­
weile schon hinaus: Das virtuelle Produkt ist unsere große Vision“,
freut sich Stefan Görtz auf die Zukunft. Mit dem Projekt Digital-X
soll der Weg dorthin geebnet werden. „Wir arbeiten jetzt mit
mehreren Instituten zusammen, so können wir Flugzeuge unter
Berücksichtigung der einzelnen Disziplinen optimieren.“ Es geht
also nicht nur um die Aerodynamik, alle Fachbereiche sollen in
dem neuen Projekt gemeinsam am virtuellen Flugzeug arbeiten.
„Flugversuche und Experimente im Windkanal können
aber niemals ganz abgelöst werden“, betont Görtz. Die nume­
rische Simulation sei als eines von drei Instrumenten in der
Anhand der numerischen Simulation eines propellerbetriebenen
Transportflugzeugs kann die Wechselwirkung zwischen Propeller
und Flugzeug erforscht werden. Die Farben zeigen das Ausmaß
der Wirbelstärken im Strömungsfeld.
Die Ingenieure Ralf Heinrich (links) und Stefan Görtz besprechen
die Ergebnisse einer Computersimulation, bei der das Verhalten
eines Flugzeugs in einer Windböe simuliert wird
Das C²A²S²E-Cluster –
ein Hochleistungsrechner
besonderer Art
Im September 2013 wurde beim DLR Braunschweig das neue
C²A²S²E-Cluster in Betrieb genommen. Die Grundfläche des
Supercomputers misst drei mal vier Meter. Mit ihm können
262 TFlop/s, also 262.000.000.000.000 Rechenoperationen
pro Sekunde durchgeführt werden. Das neue Cluster hat
1.120 Prozessoren mit 13.440 Rechenkernen. (Das ent-
spricht in etwa 3.000 heimischen PCs. Auch in heimischen
PCs stecken mittlerweile Mehrkern-Prozessoren.) Damit ist
C²A²S²E der schnellste Rechner für die Luftfahrtforschung
in Deutschland und Europa.
Bei dieser Flugzeugkonfiguration werden die komplexen Strö-
mungsverhältnisse, die bei Start- und Landephasen an den Trag-
flächen auftreten können, farblich visualisiert
Der im Oktober 2013 errichtete Hochleistungsrechner ist zwar
kleiner als sein Vorgänger, dafür aber deutlich schneller: Bis zu
262.000.000.000.000 Rechenoperationen pro Sekunde bewältigt
das neue C²A²S²E-Cluster
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NUMERISCHE FLUGSIMULATION
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Flugzeugforschung und -entwicklung zu verstehen. Als eines,
das Risiken minimieren, Kosten sparen und die Zuverlässigkeit
erhöhen könne. Alles so genau wie möglich vorher zu wissen,
sei für die Unternehmen sehr wichtig, denn mit jeder neuen
Flugzeugentwicklung riskiere eine Firma aufgrund der enormen
Entwicklungskosten ihre Existenz, erläutert Görtz. Im Projekt
Digital-X wolle man hin zu mehr Realitätsnähe: Wurden anfangs
nur vereinfachte Flugzeuge betrachtet, kommen jetzt immer
mehr Details hinzu. Auch Abweichungen, die zu einer Verän­
derung der Form führen können, wie etwa Vereisungen, werden
bei der Entwicklung berücksichtigt, um ein optimales Produkt
zu finden. Stefan Görtz weiß: „Erst wenn sich ein Flugzeug am
Rechner verhält wie in Wirklichkeit, kann das digitale Flugzeug
das Versuchsflugzeug ebenbürtig ergänzen.“
Autorin:
Yvonne Buchwald ist Mitarbeiterin im DLR-Institut für Aerodyna-
mik und Strömungstechnik Braunschweig und kümmert sich
dort um die Öffentlichkeitsarbeit.
Weitere Informationen:
DLR.de/as
s.DLR.de/ghu1
Bild: Airbus
1,2-3,4-5,6-7,8-9,10-11,12-13,14-15 18-19,20-21,22-23,24-25,26-27,28-29,30-31,32-33,34-35,36-37,...60
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