Komplexe Plasmen sind Niedertemperaturplasmen, das heisst elektrisch leitende Gase, ähnlich wie sie in Leuchtstoffröhren verwendet werden, in die Mikropartikel („Staubteilchen“) eingebracht werden. Die sphärischen Mikropartikel mit Durchmessern zwischen 1 und 10 Mikrometern laden sich in der Plasmakammer, in der das Plasma durch Gasentladung in Argon oder Neon erzeugt wird, durch Elektronenanlagerung stark negativ auf und werden durch elektrische Felder zum Schweben gebracht. Aufgrund dieser Aufladung ist die elektrostatische Wechselwirkung zwischen den Mikropartikeln sehr stark, sodass neue interessante Phänomene auftreten können. Dazu zählt unter anderem der so genannte Plasmakristall, eine reguläre Anordnung der Mikropartikel im Plasma, die 1994 am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Zusammenarbeit mit dem DLR entdeckt wurde.
Ziel unserer Forschungen ist es, das Verhalten der Mikropartikel im Plasma, zum Beispiel die Bildung des Plasmakristalls, zu untersuchen. Diese Experimente und ihre Auswertung werden im Labor durch den Einfluss der Schwerkraft auf die Mikropartikel teilweise stark beeinträchtigt. Deshalb werden seit 1996 regelmäßig Experimente mit komplexen Plasmen unter Schwerelosigkeit in Parabelflügen, mit ballistischen Raketen (TEXUS) und auf der Raumstation ISS durchgeführt.
Mit dem Gerät PK-4 auf der ISS wurden bereits mehrere Experimente erfolgreich durchgeführt. I Die Plasmakammer besteht aus einer Glasröhre (Länge 45 cm, Durchmesser 3 cm), die insbesondere für die Untersuchung der flüssigen Phase in komplexen Plasmen von Vorteil ist. Eine wichtige Fragestellung dabei sind Strömungseigenschaften, wie zum Beispiel Turbulenz, von großen Mikropartikelwolken (einige Millionen Teilchen), aber auch von kleinen Systemen aus wenigen Teilchen. Bei neun vorbereitenden Parabelflugkampagnen wurden wissenschaftliche Untersuchungen und Funktionstests der Apparatur unter Schwerelosigkeit durchgeführt. Auf der DLR- Parabelflugkampagne im September 2016 werden Eigenschaften der flüssigen Phase in komplexen Plasmen, die sogenannte Elektrorheologie und Entmischung von binären Systemen aus zwei verschiedenen Teilchengrößen, untersucht. Dabei soll eine besonders schnelle Kamera zur Partikelbeobachtung eingesetzt werden, um die Dynamik des Systems genauer untersuchen zu können. Außerdem sollen die ISS-Experimente durch binäre Mischungen ergänzt und verbessert werden.
Als Wissenschaftler der Universität Giessen sind wir in erster Linie an der Grundlagenforschung interessiert. Die komplexen Plasmen sind jedoch auch ideale Modellsysteme für andere Bereiche, zum Beispiel Kristallographie, Physik und Technik von Flüssigkeiten und Gasen, Nanotechnologie (Nanofluidik), etc.. Daneben gibt es Anwendungen in der Astrophysik, zum Beispiel bei der Planetenbildung, und der Plasmatechnologie, zum Beispiel in der Mikrochip-Produktion, die sich aus einem verbesserten Verständnis der Physik komplexer Plasmen ergeben.