Komplexe Plasmen sind Niedertemperaturplasmen, das heisst elektrisch leitende Gase, ähnlich wie sie in Leuchtstoffröhren verwendet werden, in die Mikropartikel („Staubteilchen“) eingebracht werden. Die sphärischen Mikropartikel mit Durchmessern zwischen 1 und 10 Mikrometern laden sich in der Plasmakammer, in der das Plasma durch Gasentladung in Argon oder Neon erzeugt wird, durch Elektronenanlagerung stark negativ auf und werden durch elektrische Felder zum Schweben gebracht. Aufgrund dieser Aufladung ist die elektrostatische Wechselwirkung zwischen den Mikropartikeln sehr stark, sodass neue interessante Phänomene auftreten können. Dazu zählt unter anderem der so genannte Plasmakristall, eine reguläre Anordnung der Mikropartikel im Plasma, die 1994 am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Zusammenarbeit mit dem DLR entdeckt wurde.
Ziel unserer Forschungen ist es, das Verhalten der Mikropartikel im Plasma, zum Beispiel die Bildung des Plasmakristalls, zu untersuchen. Diese Experimente und ihre Auswertung werden im Labor durch den Einfluss der Schwerkraft auf die Mikropartikel teilweise stark beeinträchtigt. Deshalb werden seit 1996 regelmäßig Experimente mit komplexen Plasmen unter Schwerelosigkeit in Parabelflügen, mit ballistischen Raketen (TEXUS) und auf der Raumstation ISS durchgeführt. Das Experiment PKE-Nefedov, das von 2001 bis 2005 in Zusammenarbeit mit dem Institute for High Energy Densities in Moskau mit Unterstützung des DLR erfolgreich durchgeführt wurde, war das erste wissenschaftliche Experiment auf der ISS. Das Nachfolgeexperiment PK-3 Plus wurde von 2006 bis 2013 auf der ISS betrieben. Beide Experimente lieferten interessante neue Resultate, die in bisher über 40 Artikeln in Fachzeitschriften veröffentlicht wurden.
PK-4, das seit 2002 mit Unterstützung von DLR und ESA entwickelt wurde, befindet sich seit 2014 im europäischen Columbus-Modul auf der ISS. Mehrere Experimente sind bereits erfolgreich durchgeführt worden. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern besteht die Plasmakammer aus einer Glasröhre (Länge 45 cm, Durchmesser 3 cm), die insbesondere für die Untersuchung der flüssigen Phase in komplexen Plasmen von Vorteil ist. Eine wichtige Fragestellung dabei sind Strömungseigenschaften, wie zum Beispiel Turbulenz, von großen Mikropartikelwolken (einige Millionen Teilchen) aber auch von kleinen Systemen aus wenigen Teilchen. Mit PK-4 haben wir bereits an zehn Parabelflugkampagnen teilgenommen. Ziel dieser Experimente waren dabei neben wissenschaftlichen Untersuchungen auch Funktionstests der Apparatur unter Schwerelosigkeitsbedingungen als Vorbereitung für die ISS. Auf der DLR Parabelflugkampagne im Februar/März 2018 beabsichtigen wir Eigenschaften der flüssigen Phase in komplexen Plasmen, die sogenannte Elektrorheologie, die Entmischung von binären Systemen aus zwei verschiedenen Teilchengrößen und durch Laser erzeugte Scherflüsse, näher zu untersuchen. Dabei soll eine schnellere Kamera als die auf der ISS zur Partikelbeobachtung eingesetzt werden, um die Dynamik des Systems genauer untersuchen zu können. Außerdem stehen binäre Mischungen in der ISS-Apparatur nicht zur Verfügung. Somit sollen die ISS-Experimente ergänzt und verbessert werden.
Als Wissenschaftler der Universität Gießen sind wir in erster Linie an der Grundlagenforschung interessiert. Dazu gehört aber auch, dass komplexe Plasmen ideale Modellsysteme für andere Bereiche, zum Beispiel Kristallographie, Physik und Technik von Flüssigkeiten und Gasen, Nanotechnologie (Nanofluidik), etc., darstellen. Daneben gibt es indirekte Anwendungen in der Astrophysik, zum Beispiel bei der Planetenbildung, und der Plasmatechnologie, z.B. in der Mikrochip-Produktion, die sich aus einem verbesserten Verständnis der Physik komplexer Plasmen ergeben.