Mittwoch, 30. Januar
Die High-Tech-Anlagen von ESRANGE liegen inmitten kilometerweiter Nadelwälder. Höher im Norden unterbricht nur noch eine dürre Strauchvegitation das allgegenwärtige Weiß: zugefrorene Seen und Flüsse, schneebedeckte Hügel und Ebenen bis zum ewig dämmrigen Horizont. Am Vormittag startet ein Helikopterteam zum Geländecheck. Das Landegebiet der TEXUS-Nutzlast wird von Experten sorgsam überprüft, um neben einem reibungslosen Flug auch eine sichere Landung zu gewährleisten - nicht nur für die wissenschaftlichen Experimente.
Zwar ist das Gelände so gut wie unbewohnt, doch einige Samen leben verstreut im Grenzgebiet zwischen Schweden und Norwegen. Die Ureinwohner Lapplands sind heute zwar mit Schneemobilen unterwegs, leben aber nach wie vor traditionell mit ihren umherziehenden Rentierherden in der kargen Natur Nordskandinaviens.
Die Samen wissen über den bevorstehenden Raketenstart bescheid, aber sie interessieren sich kaum dafür. Zu unwahrscheinlich ist es, dass die herabstürzenden Raketenstufen oder gar die am Fallschirm landende Nutzlast einen Schaden anrichten würden. Für einen solchen Fall gäbe es Entschädigungsregelungen. Dennoch vergewissert sich das ESRANGE-Team über die Aktivitäten der Samen. Nach halbstündigem Flug über ihr Gebiet landet der Helikopter neben zwei Holzhütten, vor denen ein Mann gerade mit dem Zerlegen eines Rentiers beschäftigt ist. "Nein, keine Aktivitäten", sagt er mit gleichgültiger Miene. Die Herden zögen alle weiter östlich, auch die Samen seien jetzt dort. Der Helikopter hebt ab zum Rückflug. Mission erfüllt - das Erkundungsteam gibt grünes Licht für den Start von TEXUS 44.
Der letzte Transport zur Startrampe beginnt
Währenddessen machen sich die Techniker in der Integrationshalle für den Transport des Nutzlastmoduls zur Startrampe bereit. Das ist zum Glück absolut ungefährlich. Denn im Gegensatz zu den Motoren enthält dieses Raketenelement keinen Treibstoff. Zunächst bringen die Ingenieure das Modul, das seit gestern Abend auf seinem Anhänger wartet, in eine waagerechte Position. Dann rollt das Gefährt zum Startturm, wo die Booster bereits aufgebaut sind. Langsam richtet sich das Modul wieder auf und wird hinauf gezogen. Dort montieren die Techniker es auf die zweite Oberstufe. Jetzt dauert es nur noch kurze Zeit und TEXUS 44 ist bereit für den Start.
Im Labor arbeitet das Bonner Biologenteam von Prof. Dieter Volkmann wieder an seinen Experimenten. Schon seit Tagen setzen die Wissenschaftler jeden Morgen um 9 Uhr ihre Keimlinge an. Dazu geben sie die Samenkörner von Aradopsis-Pflanzen auf sterile Platten, die einen Nährboden (Agar) enthalten. Außerdem rollen sie Maiskörner in Papier ein und geben diese in Bechergläser. Anschließend gießen die Forscher eine spezielle Flüssigkeit auf die Körner. Für ihre Versuche benötigen sie eine stattliche Anzahl von Proben, und so dauert diese Prozedur rund zwei Stunden.
Nach etwa drei Tagen sind die Keimlinge so weit gediehen, dass sie in die Experiment-Anlage eingesetzt werden können. Die winzigen Aradopsis-Pflänzchen werden im Ganzen verwendet, von den größeren Maiskeimen benötigen die Wissenschaftler nur die äußerste Spitze. Prof. Volkmann ist sehr zufrieden mit dem TEXUS-Programm. Besonders wichtig ist ihm die Möglichkeit, noch bis zu eineinhalb Stunden vor dem Start an den Keimlingen und der Apparatur zu arbeiten: "Bei Shuttle-Starts gebe ich die Sachen bereits zwei Tage vor dem Start ab. Es ist hier sehr viel angenehmer, dass man die Objekte so kurz vor dem Start noch behandeln kann." An den Keimlingen möchten die Wissenschaftler Vorgänge erforschen, die bei der Schwerkraftwahrnehmung von Pflanzen ablaufen. Sie vermuten, dass dabei Membranen und Hormone eine wichtige Rolle spielen.
Am Mittag startet der Wetterballon
Für kurz nach 12 Uhr steht der Start des ersten Wetterballons gegenüber der Integrationshalle auf dem Programm. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter hält ihn an einer Schnur fest und wartet auf den Startbefehl. Sehr spektakulär ist das nicht, denn der milchigweiße Ballon hat nur einen Durchmesser von etwa eineinhalb Metern. Aber das ändert sich mit zunehmender Höhe drastisch.
Durch die abnehmende Dichte der Luft dehnt sich der Ballon immer weiter aus, bis er in etwa 40 Kilometern Höhe das Vierfache seines Umfangs erreicht hat. Dann ist bald der Zeitpunkt erreicht, an dem der Ballon platzt und das Aufzeichnungsgerät für die Wetterdaten herab fällt.
Bis dahin messen die Meteorologen Windrichtung und -stärke in den verschiedenen Schichten der Atmosphäre. Nun endlich ertönt das Kommando und der wissenschaftliche Mitarbeiter gibt den Ballon frei; zügig entschwindet er den Blicken. Man fühlt sich ein wenig an eine Hochzeit erinnert, wenn die Luftballons mit guten Wünschen in den Himmel steigen. Der nächste Ballon wird morgen früh gegen 4 Uhr aufsteigen. Dann folgen weitere. Aufgrund der gemessenen Daten wird die Missionsleitung entscheiden, ob sie den Countdown für TEXUS 44 startet.