DLR-Wissenschaftler untersuchen Gruppendynamik und körperliche Verfassung der Kandidaten
Er sieht ein wenig aus wie eine Mischung aus finnischer Sauna und ausgebautem Dachstuhl der 70er Jahre - aber der Container mit der Holzverkleidung im Inneren und den Dachschrägen, in dem sechs Männer am 3. Juni 2010 für fast anderthalb Jahre freiwillig in Isolation gehen, soll auch nicht viel Luxus bieten. Beim Mars500-Experiment der europäischen Weltraumorganisation ESA wird schließlich nichts Geringeres als der Flug zum Mars, die Landung und anschließende Rückkehr zur Erde simuliert.
"Die 520 Tage sind eine ziemliche psychische Belastung." Oliver Knickel weiß, wovon er spricht, denn er hat als deutscher Kandidat bereits im vergangenen Jahr bei einem Vorexperiment 105 Tage in der Versuchsanlage im Moskauer Institut für Biomedizinische Probleme (IBMP) verbracht. "Der größte Feind ist die Monotonie."
Virtuelle "Reise" zur simulierten Marsoberfläche
Gerade einmal jeweils drei Quadratmeter groß sind die Einzelzimmer mit Bett, Tisch und Stuhl, in denen die Kandidaten schlafen. "Schon sehr klein, aber man kann zumindest die Tür hinter sich zu machen", erinnert sich Knickel. Dazu gibt es noch einen Gemeinschaftsraum, eine Küche, den Kontrollraum und eine Toilette. In einem weiteren Modul sind unter anderem der Sportbereich und die Vorräte untergebracht, auch für medizinische Notfälle gibt es ein Modul. 250 Tage dauert die virtuelle Reise zum Mars, 30 Tage der "Ausstieg" in den Mars-Lander und der Ausflug auf eine simulierte Marsoberfläche, 240 Tage der Rückflug zur Erde.
Alleine 300 Bewerber gab es bei ESA, die dieses Weltraum-Abenteuer auf festem Boden erleben wollten. Vier davon schafften es in die engere Auswahl, der Franzose Romain Charles und der Italio-Kolumbianer Diego Urbina werden für anderthalb Jahre in die Isolationsanlage gemeinsam mit drei Russen und einem Chinesen einziehen. Knickel hat als Berater für die kommende Mars500-Studie die Kandidaten bereits kennengelernt. "Diego ist sehr lebensfroh, immer gut gelaunt, Romain ist sehr ruhig und überlegt." Durchaus unterschiedliche Charaktere also. "Das war in meiner Crew auch so, aber damit kann man sich gut ergänzen."
Zwiebeln und Tomaten aus dem eigenen Gewächshaus
Der Tagesablauf ist dabei strikt durchorganisiert. Aufstehen, Arbeitszeiten, alles ist genau festgelegt. Auch wenn die Schwerelosigkeit fehlt - die Tage während des bisher längsten simulierten "Reise" durchs Weltall sollen wie bei einer realen Mission mit Experimenten, gesundheitlichen Tests oder auch Wartungsarbeiten der technischen Systeme gefüllt werden. Die Mahlzeiten sind wie bei der Internationalen Raumstation vorgefertigt. Allerdings: Ab und an können die Kandidaten aus einem kleinen Gewächshaus Kräuter, Tomaten und Zwiebeln ernten, um ihr Essen "aufzupeppen". Ein Highlight für Knickel: "Das Ernten aus der Erde gab immer ein positives Gefühl."
Ab 18.30 Uhr stand bei Knickels Studie dann immer die Freizeit an. Statt sich ins kleine Zimmer zu verziehen, saßen die sechs Crewmitglieder dann oftmals bei Gesellschaftsspielen oder gemeinsamem Computerspiel zusammen. Vor allem das engste Umfeld habe er aber vermisst, sagt der ehemalige Bewohner des Isolationscontainers. Selbst Kontakte mit der Außenwelt gibt es lediglich über ein simuliertes Kontrollzentrum mit 20-minütiger Verspätung - schließlich würde auf einer Reise zum Mars der Funkverkehr zur Erde auch nicht ohne Zeitverzögerung funktionieren.
Studie für Erkenntnisse zur Gruppendynamik
Menschen auf engem Raum, kaum Kontakt zur Außenwelt, verschiedene Nationen unter einem Dach - für DLR-Wissenschaftler Dr. Bernd Johannes vom Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin sind dies alles spannende Voraussetzungen für seine Studien: "Eine schöne internationale Besatzung, mit allen Multi-Kulti-Problemen, die es so gibt." Mit einem neuen, drahtlosen Messsystem, das erstmals während der 105-Tage-Studie getestet wurde, will Johannes die Gruppendynamik während der 520 Tage Isolation untersuchen. "Die Kandidaten tragen einen "Satelliten", einen Sensor, der feststellt, welche Satelliten der gleichen Bauart in der Nähe sind." Das Gerät zeichnet auf, wer wie lange in wessen Nähe war. "Wer häufig nebeneinander hockt, kann sich unmöglich nicht leiden, wer sich selten begegnet, geht sich eher aus dem Weg."
Zwei Mal in der Woche tragen die Kandidaten die Ausrüstung. Nachts, wenn die Sensoren in der Ladestation stehen, werden die Daten abgerufen und anschließend zu einem Soziogramm verarbeitet, das die Intensität des Kontakts bildlich darstellt. "Wir hoffen, dass wir damit eine Methode haben, die das Beziehungsgefüge nicht beeinflusst." Bisher wurde das Verhältnis innerhalb einer Gruppe durch das Ausfüllen von Fragebögen und Rollenspiele untersucht. Allerdings: "Dabei haben die Mitglieder über das Beziehungsgefüge nachgedacht, und das hat oft Auswirkungen auf den zukünftigen Umgang miteinander." Ein Vergleich dieser klassischen Mittel und der Messdaten von Dr. Bernd Johannes soll bessere Erkenntnisse zur Gruppendynamik liefern. Denn auf einer Langzeitmission ins All sind die Crew-Mitglieder auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen: "Ein U-Boot mit seiner Besatzung kann man zurückkommandieren, ein Raumfahrzeug nicht."
"Meistens spitzen sich Sympathien und Antipathien zu"
1999 lebte der DLR-Wissenschaftler selbst 110 Tage in der Isolationsstation im Moskauer Institut für Biomedizinische Probleme. Damals wurde das Zusammenleben einer Crew auf der Internationalen Raumstation, deren Bau gerade begonnen hatte, simuliert. Gelernt hat er dabei vor allem Toleranz, sagt er. Mit seinen damaligen Crew-Kollegen ist er heute noch befreundet. "Aber das ist nicht vorhersagbar", erklärt er. "Das ist wie bei einer Ehe: Viele lieben sich und heiraten, aber ob die Ehe hält, weiß niemand." Bei einer langen Reise zum Mars könne der Mangel an Reizen und Ressourcen dazu führen, dass die Gruppe nicht mehr harmoniere. "Meistens spitzen sich Sympathien und Antipathien zu."
Weitere Experimente, die Wissenschaftler des DLR während der Mars500-Isolationsstudie durchführen, werden in 520 Tagen Aufschluss darüber geben, wie sich eine Langzeitmission auf die Crew auswirken könnte. Dazu untersuchen die Forscher unter anderem den Knochenstoffwechsel, die Blutdruckregulation oder auch die Stärkung des Immunsystems durch Lebensmittelergänzungen. Oliver Knickel wird die Studie mit ein wenig Wehmut verfolgen: "Es ist immer ein Stück Nostalgie dabei, wenn ich sehe, wie sich die Experimente weiterentwickeln." Damals war er einerseits froh, als der versiegelte Container nach 105 Tagen am 14. Juli 2009 wieder geöffnet wurde, andererseits hätte er es sich auch gut vorstellen können, länger zu bleiben. "Das ist schon eine eigene kleine Welt."