Raumfahrt | 02. Juli 2019 | von Friederike Wütscher

AGBRESA: Nach dem Liegen ist vor dem Liegen

Quelle: DLR.
Einer der AGBRESA-Probanden beim REHA-Sport

Die erste Kampagne der AGBRESA-Bettruhe-Studie ist vorbei, die zwölf Probandinnen und Probanden sind wieder ausgezogen, alle Utensilien, Betten, Anlagen und Instrumente werden geprüft und verstaut. Die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben eine Verschnaufpause, bevor im August die Vorbereitungen für die zweite Kampagne, die Anfang September losgeht, wieder starten. Zeit für ein Fazit der Beteiligten zur ersten Kampagne.##markend##

Tägliche Fahrten auf der Zentrifuge

Neu bei dieser AGBRESA-Bettruhe-Studie waren die täglichen Fahrten von acht der zwölf Probanden auf der DLR-Kurzarm-Human-Zentrifuge. Hier waren alle besonders gespannt, wie diese Maßnahme laufen würde und ob alle Planungen und Vermutungen richtig waren. Tatsächlich verliefen die täglichen Interventionsfahrten mit dem teilweise komplexen Experimentplan auf Anhieb sehr gut. Erstaunlich war vor allem, wie gut die Probanden die täglichen Fahrten meisterten: "Wir hätten nicht gedacht, dass die Probanden die Zentrifugenintervention so gut tolerieren würden. Bei 60 Tagen am Stück und 30 Minuten 1g-Belastung am Körperschwerpunkt pro Tag haben wir schon mit mehr Ausfallzeiten gerechnet. Es freut uns sehr, dass alles so gut aufgegangen ist und wir für Kampagne 2 so weitermachen können", erzählen Alexandra Noppe und Timo Frett vom Zentrifugenteam. Derzeit ordnen sie und die Kollegen alle Daten und beginnen mit den  Analysen.

Zellkulturen statt Probanden

Auch wenn der ein oder andere in den verdienten Sommerurlaub geht, hat die Zentrifuge keine Pause: Neben den Auswahlfahrten der potentiellen Bewerberinnen und Bewerber für die zweite AGBRESA-Kampagne stehen Fahrten mit zellbiologischen Proben an. Das Fluoreszenzmikroskop wurde bereits wieder auf die Zentrifuge montiert und dreht schon mit den ersten Zellkulturen. Eine erfolgversprechende erste Untersuchungsreihe zum Wachstum von primären Nervenzellen unter Hyper-G hatte bereits vor AGBRESA stattgefunden, nun beginnt eine weitere Reihe während der Kampagnen-Pause. Vor Beginn der nächsten Bettruhe-Phase wird die Zentrifuge außerdem intensiv gewartet, sodass sie weiterhin fehlerfrei ihren täglichen Dienst verrichtet, lediglich organisatorische Abläufe werden etwas angepasst. "Vor allem die wissenschaftlichen Teams haben den reibungslosen Ablauf an der Zentrifuge vielfach gelobt, da sind wir auch ein wenig stolz", so Timo Frett.

AGBRESA-Zentrifugenfahrten in Zahlen:

Während der Kampagne wurde die 1.000.000 Runden-Marke seit Indienststellung der DLR-Kurzarm-Human-Zentrifuge im Jahr 2013 geknackt. Für AGBRESA wurden dabei mehr als 600.000 Runden gefahren. Die medizinische Überwachung erforderte das Kleben von über 2700 EKG-Elektroden. Das Zentrifugenteam war 60 Tage lang täglich zwischen acht und zehn Stunden im Einsatz, auch an allen Feiertagen und den Wochenenden.

Was sagen die Probanden?

Für die Probanden hieß es nach dem Aufstehen direkt: Los geht’s. Das anstrengende Reha-Programm startete nach 60 Tagen Bettruhe genauso unerbittlich wie all die Experimentreihen, die auch bereits vor der Bettruhe gemacht wurden, so dass die Wissenschaftler nun die Daten vergleichen können. Aber wie muss man sich das vorstellen, nach 60 Tagen wieder auf eigenen Beinen zu stehen?
Proband F berichtet, dass das Aufstehen und die ersten ein bis zwei Tage "sehr easy" waren - dann kam der Muskelkater. Der Rücken, aber vor allem die Waden machten sich bemerkbar, das Sportprogramm zeigte Wirkung. Das eigentliche Aufstehen, auch ein Experiment, bei dem der Proband auf dem Kipptisch aus der horizontalen Lage innerhalb weniger Sekunden zum Stehen gekippt wird, fühlte sich merkwürdig an: "Die Beine wurden mit einem Mal schwer, kalter Schweiß brach aus, man wusste nicht mehr so genau wo oben und unten ist". Die Probanden werden dann wieder in die Horizontale zurück gekippt, wenn der Kreislauf vom plötzlichen Aufrichten und dem passiven Stehen zu sehr beansprucht wird. Nach ein paar Minuten Erholung im Liegen stehen die Probanden dann richtig auf, mit eigener Kraft und mit ein paar Schritten zum bereitgestellten Rollstuhl, den sie in den ersten beiden Tagen als Vorsichtsmaßnahme noch nutzen. Damit rollen sie dann von Experiment zu Experiment durch das :envihab, zum Beispiel zum Sprungtest: "Ich konnte mich kaum abdrücken, der Widerstand des Bodens war komplett neu. Im Bett dachte man immer: Ach, das kann ich schon alles wieder, kein Problem! Aber der erste Tag war schon enorm, die Beine fühlten sich an wie Ballons, die jeden Moment platzen würden. Aber jeden Tag wurde es besser und an Tag 4 musste ich schon nicht mehr überlegen, wie das mit dem Aufstehen geht." Kraft und Ausdauer waren zwar nicht vorhanden, aber darauf waren die Probanden ja vorbereitet. Sein Resümee: "Das Im-Bett-Liegen war für mich keine wirkliche Herausforderung. Ich habe während des Liegens eigentlich keine Veränderung gemerkt, dafür aber dann nach dem Aufstehen!"

Quelle: DLR.
Das Sportprogramm geht direkt nach dem Aufstehen los

Der Muskelkater war auch für Proband K sehr eindrücklich: "Ich habe von oben bis unten alle Körperpartien gespürt, aber es tat richtig gut!", berichtet er begeistert von den ersten Tagen nach dem Aufstehen. "Der Aufstehtag war der beste Tag meines Lebens, noch nie habe ich mich so aktiv gefühlt! Die Bewegung und der Sport waren schon befreiend, vor allem das Laufband, auf dem die Geschwindigkeit langsam von Gehen zum Laufen gesteigert wird, war richtig gut." Beim Balancetest musste er die Augen schließen und den Kopf bewegen und wäre dabei fast umgefallen, wäre er nicht von den Mitarbeitern gesichert worden. Und beim Parcour-Experiment, bei dem die Probanden zehn Mal hintereinander einen Slalom-Kurs mit unterschiedlichem Untergrund und Richtungswechseln absolvieren müssen, merkte er sofort, dass sowohl Muskulatur als auch Luft fehlten. Das Aufrichten auf dem Tilt Table - dem Kipptisch - sei auch eine Erfahrung für sich gewesen: "Auf einmal wurden die Schultern schwer, der Kopf wackelte ohne Balance, das Hemd war durchgeschwitzt, ohne dass ich mich bewegt habe. Das war schon komisch, dass das nur durch Stehen passierte. Und das Laufen am ersten Tag war auch merkwürdig, meine Füße mussten sich erst einmal sortieren. Und wenn ich für ein Experiment liegen musste, habe ich automatisch gedacht, dass ich wieder liegen bleibe, ich musste immer wieder erinnert werden, dass ich ja nun aufstehen kann!". Das Reha-Programm ist für ihn eine tolle Erfahrung nach der Bettruhe: "Man freut sich richtig über den Muskelkater und es macht total Spaß. Aber das Erste, was ich draußen tun werde, ist die Sonne genießen und eine Tüte Chips und Schokolade kaufen!"

Probandin D hatte in den ersten Tagen nach dem Aufstehen vor allem mit Schwindel zu kämpfen und musste sich immer wieder hinsetzen. Aber das Aufstehen auf dem Tilt Table mit dem Wirken der Schwerkraft hat sie auch genossen: "Das Puffy Face, das aufgedunsene Gesicht, ging mit einem Mal weg, ich konnte es richtig spüren." Gerade beim Parcour merkte sie, dass der Kreislauf noch schlapp war und dass sie etwas langsamer machen musste. "Teilweise kam ich mir vor wie volltrunken. Aber mittlerweile habe ich mich wieder an die Schwerkraft gewöhnt!"

Nachbarin Probandin C hatte weniger Probleme mit der Rückanpassung. Sie würde sofort wieder mitmachen, ohne Einschränkungen: "Ich habe mich nie gelangweilt im Bett, alles war einfach so spannend und gut organisiert, ich weiß nicht, wo die zwei Monate geblieben sind!" Als witzig empfand sie vor allem die neue Perspektive im Sitzen und Stehen: "Einige Mitarbeiter sehen viel kleiner aus, wenn man ihnen auf einmal wieder gegenüber steht, andere größer. Man hat die Relation etwas verloren. Und es fühlte sich in den ersten Tagen an wie hinter Glas, als ob man nur bedingt anwesend ist. Jetzt ist aber wieder alles normal. Schön ist auch, dass wir Probanden uns nun wieder einfacher treffen können." Sie freut sich vor allem auf Schokoladenkuchen - und Kaffee, auf den sie auch drei Monate verzichten musste.

Proband B hatte ähnliche Assoziationen in den ersten Tagen wie Probandin D: Auch er fühlte sich so, als ob er bei einer Alkoholkontrolle nicht durchgekommen wäre - ganz ohne Alkoholkonsum. Der Kipptisch, der Balancetest, die ersten Schritte - alles ungewohnt anstrengend und schweißtreibend. "Die ersten drei Tage hatte ich Muskelkater wie noch nie, überall, am Oberschenkel, in der Wade, in der Schulter. Schwindelig war mir nicht, und ich habe mich wirklich schnell wieder an das normale Bewegen gewöhnt, jetztläuft alles wieder rund." Und was wird sein erstes Ziel nach dem Auszug sein? "Ich treffe mich direkt mit Freunden und werde einen Junggesellenabschied feiern. Dabei werde ich ein persönliches Alkoholexperiment starten". Das erste Bier nach drei Monaten wird sicherlich lecker werden.

Quelle: DLR.
Ein Proband beim Parcour-Experiment nach dem Aufstehen

Kampagne 1: Was sagt der Projektleiter Edwin Mulder?

"Als ich vor einem Jahr die erste Version des täglichen Zeitplans der AGBRESA-Studie zeigte, runzelten viele Kollegen die Stirn: die Studie war mit über 150 Experimente zu voll, zu ambitioniert, kurz gesagt: nicht durchführbar. Aber jetzt, nach 94 Tagen Non-Stop-Studie, können wir festhalten, dass die erste Kampagne der AGBRESA-Studie sehr gut gelaufen ist. Fast 100 Prozent der mehr als 150 Experimente konnten planmäßig stattfinden, nur Kleinigkeiten mussten wir anpassen. Die mehrjährige Erfahrung, die gute Vorbereitung und die Führung vom Projekt-Team vor Ort sind natürlich nur eine Seite der Medaille; die Unterstützung von unseren internen Mitarbeitern des Instituts als auch die eingekauften Leistungen von Externen waren wirklich großartig. Der große Ehrgeiz, exzellente Forschung zu betreiben und sich dafür auch abends, nachts, am Wochenende oder auch an Feiertagen in einer kollegialen Atmosphäre einzusetzen, ist bezeichnend für das Institut der Luft- und Raumfahrtmedizin. Dies alles macht mich schon stolz und ich freu mich, diese bunte Gruppe an Personen zu führen.

Nach einer kurzen Sommerpause kehren wir voller Elan zurück zur Sache. Ich bin mir sicher, dass mit diesem Team auch die zweite AGBRESA-Kampagne ein voller Erfolg wird. Bleibt dran!"

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Über den Autor

Friederike Wütscher ist am DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig und stellt die vielfältigen Arbeits- und Themengebiete des Instituts nach außen dar. Besonders diese Vielfalt und die aufwendigen Studien, die das Institut in :envihab und den weiteren Forschungsanlagen durchführt, begeistern sie. Deshalb ist sie auch immer wieder bei verschiedenen Projekten vor Ort im Einsatz und kann direkt vom Studiengeschehen berichten. zur Autorenseite

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