Raumfahrt | 07. Juni 2022 | von Manfred Gaida

100 Jahre Neuordnung des Himmels

Quelle: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
Kolorierte Darstellung des nördlichen Himmels (Holzschnitt von Albrecht Dürer, 1515)

Mancher Himmelsbeobachter und Sternfreund mag sich schon einmal gefragt haben, warum der Fixsternhimmel in 88 Sternbilder, auch Konstellationen genannt, unterteilt ist, die offiziell mit lateinischen Namen bezeichnet und jeweils mit drei Buchstaben abgekürzt werden. Der Anlass für die heutige Ordnung des Himmels liegt noch gar nicht solange zurück. Denn als vor 100 Jahren im Mai 1922 die Internationale Astronomische Union (IAU) in Rom zu ihrer allerersten Generalversammlung zusammenkam, legten die anwesenden Astronomen die Anzahl und Bezeichnungen der Sternbilder explizit fest und gaben ihnen eine eindeutige Nomenklatur, die bis heute weltweit gilt. Auch ein ganz banaler, ökonomischer Grund spielte damals eine Rolle: Das Ausschreiben der vollen Sternbildnamen hatte bei der Vielzahl der astronomischen Veröffentlichungen zunehmend die Druckkosten erhöht, dem durch die Verwendung schlüssiger Kurzformen entgegengewirkt werden konnte. Da in der astronomischen Pionierzeit der Stellarspektroskopie nicht wenige Sterntabellen und -kataloge in manueller Schreibarbeit angefertigt wurden, führte ihre Verwendung auch zu einer gewissen Einsparung an Zeit, die sich für astronomisch wertvollere Arbeiten verwenden ließ.##markend##

Ein Analogon zum Periodensystem

Zuvor hatte bereits der bekannte dänische Astronom und Chemiker Ejnar Hertzsprung (1873-1967) einige Jahre lang für sich persönlich ein System benutzt, bei dem er, angelehnt an die seit rund 50 Jahren gebräuchlichen Kürzel für die chemischen Elemente des Periodensystems, die Namen der Sternbilder mit zwei Buchstaben abkürzte. Dies führte dazu, dass er bei namentlich verwandten Konstellationen wie Ursa major (Großer Bär) und Ursa minor (Kleiner Bär) zur Unterscheidung dem Kürzel Ur des zweiten Sternbildes am Ende einen Apostroph beigab, also Ur'. Hinzu kam, dass sich in Hertzsprungs System die 22 Sternbilder, die lateinisch mit einem großen C beginnen, nur durch einen einzigen nachfolgenden Buchstaben unterschieden, je nachdem noch mit einem oder zwei Apostrophen versehen.

Hertzsprung stellte sein System der Kurzbezeichnungen den astronomischen Kollegen zur Diskussion. Den meisten schien es für eine weite, internationale Anwendung zu untauglich, das heißt zu anfällig für Irrtümer zu sein. Wenn man zum Beispiel bedenkt, dass zur damaligen Zeit nachts am Teleskop Beobachtungen ausnahmslos per Hand und allenfalls bei schwachem Lampen- oder Kerzenschein protokolliert wurden, wird klar, wie schnell sich trotz großer Gewissenhaftigkeit versehentlich ein Schreibfehler infolge eines vergessenen Apostrophs oder eines unleserlich gekritzelten Buchstabens in die Fachliteratur hätte einschleichen können. Auch war nicht auszuschließen, dass es unter seltenen Umständen zu Verwechslungen mit den Elementsymbolen des Periodensystems kommen konnte. Schließlich folgte die Mehrheit der Astronomen auf der Generalversammlung dem modifizierten Vorschlag des amerikanischen Astronomen Henry Norris Russell (1877-1957), der jeweils drei Buchstaben als Kürzel für einen Sternbildnamen favorisierte. Verwechslungen und Mehrdeutigkeiten sollten damit so gut wie ausgeschlossen werden. Zugleich sollten die drei Schriftzeichen eher als Symbol eines Sternbildes gelten denn eine Abkürzung sein und als vollständiger Sternbildname gelesen werden. Der Dank gebührte freilich unabhängig von der gewählten Zahl der Schriftzeichen Ejnar Hertzsprung, der den entscheidenden Anstoß zu dieser systematischen Vereinfachung gegeben hatte.

Sterne zu Bildern versammelt

Formen, Namen, Anordnung und Zahl der Sternbilder spiegeln seit alters her die Vorstellungen der verschiedenen Kulturen wider. Anders als heute dienten sie früher nicht nur vorrangig dem Zweck, dem nächtlichen Lichtermeer eine jahreszeitlich regelmäßig wiederkehrende Ordnung zur räumlichen und zeitlichen Orientierung zu verleihen, sondern sie verkörperten auch die Spannung zwischen der unerreichbaren Himmelswelt und dem irdischen Dasein. Offiziell durchsetzen konnten sich astronomisch diejenigen Konstellationen, die der griechischen Mythologie entspringen und schon im zweiten Jahrhundert n. Chr. von Claudius Ptolemäus in seinem berühmten Werk, dem Almagest, aufgeführt wurden, dazu jene, welche aus der Zeit der europäischen Seefahrer stammen, die unter den Sternen des Südhimmels segelten und neue Gebiete erkundeten. Doch auch heute verwenden Gesellschaften noch in verschiedenen Gegenden der Erde ihre ureigenen Sternbilder, die mit ihrer Kultur und ihren Mythen eng verwurzelt sind.

Quelle: Julius Schiller - Linda hall Library
Die Heiligen Drei Könige im christlichen Sternenhimmel des Julius Schiller auf einer Wolke thronend am Ort des regulären Sternbildes Herkules.

Es wurde auch versucht, altbewährte Sternbilder abzuschaffen und neue einzuführen. Die Sternbilder des Augsburger Juristen und Astronomen Julius Schiller sind ein herausstechendes Beispiel dafür. In seinem „Coelum Stellatum Christianum“, dem Atlas des christlichen Sternenhimmels des Jahres 1627, werden sämtliche Sternbilder nach biblischen Gestalten und Vorkommnissen benannt; der nördliche Himmel schöpft aus dem Neuen, der südliche aus dem Alten Testament, die zwölf Apostel bilden den Tierkreis. Und alles ist in einer seitenverkehrten Ansicht dargestellt so, wie ein überirdisches Wesen von außen auf das Himmelszelt schauen würde! Zudem waren die Sternbilder in ihrer barocken Darstellung derart mit Einzelheiten überladen, dass die Sterne eher wie ein schmückendes Beiwerk wirkten. Doch niemand hat Julius Schiller seinen kreativen Versuch, den Himmel christianisieren zu wollen, angekreidet. Sein „Christlicher Sternenhimmel“ war zwar hinsichtlich der Zahl schwacher Sterne eine Verbesserung zu der im Jahr 1603 erschienenen „Uranometria omnium asterismorum“ des Augsburger Astronomen und Rechtsgelehrten Johann Bayer (1572-1625), aber das Prachtwerk erlangte keine große Bedeutung.

Der Himmel wird wissenschaftlicher

Mit dem zunehmenden Einsatz von Fernrohren im 17. und 18. Jahrhundert stieg die Zahl lichtschwacher Sterne und anderer Himmelsobjekte rasant an. Es wurde notwendig, den Himmel genauer zu kartografieren, und die Zahl der Himmelsatlanten und -globen stieg zusehends. Sie waren nicht selten aufwändig gestaltet und gelten vielfach als Kunstwerke der Kupferstecherei und des Buchdrucks. Ein Meisterwerk dieser Art ist die Uranographia von Johann Elert Bode (1747-1826) aus dem Jahr 1801 mit mehr als 17. 000 Sternen in 102 (!) Sternbildern. Die 21 Kupferstichtafeln dieses Atlas atmen den Geist der Romantik und sind mit die ersten, auf denen die Sternbilder mit geschwungenen Linien umrandet sind. Der englische Wissenschaftsautor Ian Ridpath hat die historische Entwicklung der Himmelskartografie mit zahlreichen weiterführenden Hinweisen eingehend und verständlich in seinen ‚Sternengeschichten‘ beschrieben.

1922 legten sich die Astronomen der IAU, wie eingangs erwähnt, auf 88 offizielle Konstellationen fest. Denn allen war bewusst geworden, dass man bei der Vielzahl der vorhandenen, aber voneinander abweichenden Himmelsatlanten ein einheitliches, übergeordnetes Regelwerk benötigte, an das sich alle strikt hielten, wenn sie ihre Ergebnisse publizierten. Zu diesen 88 Sternbildern gehören auch jene 48, die auf Ptolemäus und den Almagest zurückgehen. Sein Schiff der Argonauten (Argo Navis) wurde allerdings in die drei Sternbilder Achterdeck (Puppis), Segel (Vela) und Kiel (Carina) des Schiffs aufgeteilt. Für sich allein genommen wäre Argo Navis das Sternbild mit der größten Himmelsfläche.

Die Neufestsetzung der Grenzen der Sternbilder

Bei der verbindlichen Festschreibung der IAU auf 88 Konstellationen blieb im Jahr 1922 jedoch noch ein Mangel bestehen: Die Sternbilder ließen sich wie bisher nicht klar voneinander abgrenzen. Frühere Sterntafeln zeigten sie ohne Grenzen, auf späteren Sternkarten finden sich Umrandungen der Figuren, die jedoch freihändig gezeichnet waren und dementsprechend von Himmelsatlas zu Himmelsatlas variierten. So kam es vor, dass ein und derselbe Stern einmal diesem und ein anderes Mal jenem Sternbild zugeordnet wurde - für die Wissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts kein akzeptabler Zustand. Gleichzeitig war man sich bewusst, dass die bestehenden und in der Literatur seit Jahrhunderten niedergelegten Zuordnungen, speziell der veränderlichen Sterne, zu bestimmten Sternbildern möglichst zu bewahren seien.

Eine Idee, die Grenzen der Sternbilder der nördlichen Hemisphäre zu vereinheitlichen, kam vom belgischen nationalen astronomischen Komitee im Jahr 1923. Eugène Joseph Delporte (1882-1955), ein belgischer Astronom und später Direktor des Königlichen Observatoriums in Uccle bei Brüssel, legte dazu 1925 auf der zweiten Generalversammlung der IAU im englischen Cambridge einen Entwurf vor, der auf den Überlegungen des englischen Astronomen John Frederick Herschel (1792-1871), dem Sohn des berühmten Friedrich Wilhelm Herschel (1738-1822), mitberuhte. Dieser hatte bereits 1841 eine Revision und Neuordnung der Sternbilder vorgeschlagen, in der unter anderem die einzelnen Sternbilder durch Bögen von Großkreisen sowie Parallelen zu solchen Kreisen eingegrenzt werden sollten. Dadurch wurden alle Sternbilder geometrisch zu formstabilen Vielecken, mit definierten Eckpunktkoordinaten zu einer bestimmten Standardepoche. Die IAU griff Delportes Vorschlag auf und übertrug ihm die Aufgabe, bis zur nächsten Versammlung im Jahre 1928 die Grenzen der Sternbilder des nördlichen Himmels neu festzulegen.

Quelle: pbarbier.com (CC BY-SA 4.0)
Die Gesamtkarte des nördlichen Sternhimmels nach Eugène Joseph Delporte. Man beachte, dass die Karte keine Sterne enthält, aber die Rektaszensions- und Deklinationswerte alle Liniengrenzen, bezogen auf die Epoche 1875.

Delporte grenzte nun jedes Sternbild mit Linien ein, die entlang der Stundenkreise vertikal und zum Himmelsäquator parallel, sprich orthogonal verliefen, so wie es John Herschel rund 80 Jahre zuvor propagiert hatte. Bei seiner Neuordnung ließ sich Delporte auch davon leiten, alle veränderlichen Sterne mit einer festen Bezeichnung möglichst im jeweiligen Sternbild zu belassen, wie es die IAU-Kommission „Variable Stars“ gefordert hatte. Dies ist der Grund, warum manche Sternbilder vieleckiger sind als andere. Während sich zum Beispiel der Große Hund (Canis major) in ein einfaches Viereck fügt, hat der Drache (Draco) eine 50eckige Behausung. „Grenzsterne“, die früher zwei Sternbildern zugeordnet sein durften, gehörten nach dem neuen Linienverfahren eindeutig nur zu einem. Auf diese Weise behielt Taurus (der Stier) die Spitze seines Horns, während Auriga (der Fuhrmann) seinen Fuß verlor. Ein weiteres Problem war die Gestalt des Ophiuchus, der die Schlange (Serpens) mit seinen Händen trug. Delporte fand die Lösung, indem er die Schlange in Kopf und Schwanz teilte mit dem Schlangenträger (Ophiuchus) in der Mitte. Ungeachtet dessen gelten beide Teile, Kopf und Schwanz, zusammen als eine Konstellation. Durchweg verzichtete Delporte in seinen Karten auf die früheren allegorischen Darstellungen der Sternbilder, die in Wirklichkeit keinem astronomischen wissenschaftlichen Zweck dienten und einer nüchternen Ansicht des Firmaments weichen mussten.

Quelle: IAU (CC-BY 3.0)
Das Sternbild Ophiuchus (Schlangenträger) als eine Fläche mit 38 Eckpunkten nach Eugène Joseph Delporte.

Die neuen, fertigen Sternbildgrenzen des nördlichen Himmels wurden im Jahr 1928 von der IAU auf ihrer dritten Generalversammlung in Leiden genehmigt. Die Versammlung bat Delporte schließlich noch, die gebogenen und diagonalen Grenzlinien der Sternbilder der südlichen Himmelshemisphäre, wie sie 1877 der Astronom Benjamin Apthorp Gould (1824-1896) in seiner „Uranometría Argentina“ publiziert hatte, mit der neugeordneten nördlichen Sternhemisphäre in Einklang zu bringen. Delporte passte die Karten des Südhimmels an, entfernte die „störenden“ Umrisse und ersetzte sie durch vertikale und horizontale Linien. Das fertige Gesamtwerk des kompletten Himmels wurde schließlich 1930 unter dem Namen „Délimitation Scientifique des Constellations“ mit einem Begleitband, Atlas Céleste, auf Französisch veröffentlicht. Die Neuordnung des Himmels war vollendet.

Ausblick

Freilich wird auch diese Ordnung nicht ewig währen. Einem Menschen mag während seiner kurzen Lebensspanne der Fixsternhimmel unveränderlich erscheinen, doch in Wirklichkeit sind alle Sterne unablässig in Bewegung, sowohl im Verbund als auch relativ zueinander. Infolge der stellaren Eigenbewegungen verändern sich im Laufe von hunderttausenden Jahren und mehr die Formen der Sternbildfiguren, aufgespannt durch die jeweils helleren Hauptsterne. Aus den sieben Sternen des Großen Wagens, dem Innenteil des Großen Bären, wird allmählich eine Anordnung entstehen, die einer Kuchenschaufel gleicht. Viele Sterne werden früher oder später die Grenzen ihres Sternbildes überschreiten und in ein benachbartes Sternbild wechseln. Es findet gleichsam, an der zweidimensionalen Himmelssphäre auf kurzen Zeitskalen kaum zu bemerken, eine allmähliche „Durchmischung“ der Sterne statt. So werden sich also die Menschen eines fernen Tages wahrscheinlich wieder bemühen, dem gewandelten Sternenhimmel erneut eine angemessene Ordnung zu verleihen.

Gegenwärtig erobert eine andere Art von Konstellationen das Firmament: die erdumspannenden Anordnungen kleiner Kommunikationssatelliten , die in die Abertausende gehen und oft als auffallende Lichterketten vor den Sternbildern entlangziehen. Mit großer Sorge blicken die Astronomen auf diese neuartige Entwicklung, die sich im Namen des technischen Fortschritts vollzieht. Muss die Menschheit ihren seit Jahrtausenden gewohnten natürlichen Himmelsanblick und den ungestörten wissenschaftlichen Zugang zu den kosmischen Strahlungsquellen vor diesen sogenannten Megakonstellationen schützen lassen?

Mit dem DLR zum Sternenhimmel

Wer sich mit den Sternbildern und ihren Sternen mehr vertraut machen möchte, hat in einem der vielen Planetarien eine gute bis hervorragende Möglichkeit dazu. So bietet auch das Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt unter fachkundiger Leitung einer Astronomin und eines Astronomen kostenfreie Führungen für Schulklassen in einem Schulplanetarium in Köln-Nippes an. Weitere Einzelheiten dazu kann man diesem Flyer entnehmen.

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Über den Autor

Manfred Gaida ist seit seiner frühsten Jugend vom Weltall fasziniert und wurde schon als Schüler Mitglied der Kölner Sternfreunde. Von 1973 bis 1982 studierte er an den Universitäten Bonn und Köln Astronomie und Physik und war 33 Jahre lang als promovierter Astronom wissenschaftlicher Mitarbeiter im DLR-Raumfahrtmanagement. Zwischendurch widmete er sich auch einige Jahre intensiv dem Wissenschaftsjournalismus und war nebenbei als Fachübersetzer für bekannte populärwissenschaftlich orientierte Verlage tätig. zur Autorenseite