Zehn Jahre DLR-Verkehrssystemforschung

Seit 1999 forscht das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) für die Mobilität von morgen. Eine Keimzelle der DLR-Verkehrsforschung ist das DLR-Institut für Verkehrssystemtechnik mit seinen Standorten in Braunschweig und Berlin. Das Institut feiert am 6. September 2011 unter dem Motto "Wissen für Morgen – Zukunft erfahren" seinen zehnten Geburtstag.
Prof. Dr. Karsten Lemmer, Direktor des DLR-Instituts für Verkehrssystemtechnik, erläutert im Interview Herausforderungen, Themen und Trends der DLR-Verkehrsforschung:
Luft- und Raumfahrt trägt das DLR im Namen. Wie passt die Verkehrsforschung dazu?
Lemmer: Das DLR hat schon vor der Gründung des Schwerpunkts Verkehr Luft- und Raumfahrtwissen für Verkehrsthemen angewendet. Ende der 1990er Jahre erkannte das Bundesforschungsministerium den Verkehr als ein gesellschaftlich relevantes Thema, dass auch in einer Großforschungseinrichtung verankert werden sollte. Dass die Wahl auf das DLR fiel, war angesichts seiner Erfahrungen in der Verkehrsforschung ein konsequenter, logischer Schritt. Um dem Thema Nachdruck zu verleihen, wurden neue Institute gegründet. Das Land Niedersachsen machte sich für die Ansiedelung des Instituts für Verkehrssystemtechnik, das damals noch Verkehrsführung und Fahrzeugsteuerung hieß, in Braunschweig stark und förderte den Aufbau mit 30 Millionen Mark Anschubfinanzierung. Ich war damals bei der Siemens AG tätig. Die ausgeschriebene Stelle als Direktor eines Instituts, das auf der "grünen Wiese" gegründet und gestaltet werden wollte, fand ich eine spannende Herausforderung.
Welchen Herausforderungen stellt sich die Verkehrsforschung heute für die Mobilität von morgen?
Lemmer: Mobilität muss funktionieren. Denn Mobilität ist für unsere Gesellschaft und für unsere Wirtschaft wichtig, für die täglichen Wege jedes Einzelnen und für den Transport von Gütern. Verkehrsforschung muss also einen Beitrag zum Gelingen von Mobilität leisten, damit wir auch in Zukunft sicher, schnell und umweltfreundlich fahren können. Mit dem stetig steigenden Mobilitätsbedürfnis wächst das Verkehrsaufkommen und damit auch die Bedeutung der Verkehrsforschung. Wichtig ist dabei vor allem, dass man das Gesamtverkehrssystem im Blick behält mit all seinen Wechselwirkungen. Solch einen systemischen Ansatz verfolgen wir im DLR. Mit seinem breiten Spektrum an Kompetenzen, auch aus der Luft- und Raumfahrt, kann das DLR diesem Ansatz sehr gut gerecht werden. So betrachten wir Technik im Zusammenspiel mit dem Menschen, veränderte Mobilitätsbedürfnisse im Zusammenhang mit neuen Formen von Mobilität und neue Technologien im Hinblick auf ihr Potenzial für Verbesserungen im Verkehr. Mit unserer Forschung schauen wir zum einen sehr weit in die Zukunft und schaffen damit Grundlagen für zukünftige Entwicklungen. Zum anderen arbeiten wir in Projekten mit Industriepartnern und auch in europäisch geförderten Projekten an ganz konkreten marktnahen Lösungen. Zu unserem Spektrum gehören Analysen genauso wie Systemdesign, das wir mit einer umfassenden Versuchsinfrastruktur mit Simulatoren und Versuchsfahrzeugen unterstützen.
Beispiel 1: Sicherheit auf der A2
Im Auftrag des Landes Niedersachsen arbeitete das DLR-Institut für Verkehrssystemtechnik 2009 zusammen mit der TU Braunschweig, der TU Dresden und der Medizinischen Hochschule Hannover an einer Studie zur Erhöhung der Sicherheit und Leistungsfähigkeit auf der Autobahn A2. Die Studie verfolgte einen interdisziplinären Ansatz, mit dem durch die Kombination von straßenbaulicher, entwurfstechnischer, betrieblicher und verkehrspsychologischer Sicht ein ganzheitliches Bild des Verkehrs- und Unfallgeschehens auf der A2 gewonnen werden konnte. Erstellt wurden ein Unfall- sowie ein Belastungsprofil, die in einem Sicherheitsprofil zusammengeführt wurden. Daraus wurden gezielte Maßnahmen für jeden Streckenabschnitt der A2 abgeleitet.
Beispiel 2: Verkehrsmanagement beim Münchner Oktoberfest
Beim Oktoberfest 2010 wurde das Verkehrsmanagementsystem für Katastrophen und Großereignisse - kurz VABENE - getestet. In der Münchner Verkehrsleitzentrale unterstützte das DLR damit die Einsatzkräfte mit einer aktuellen Verkehrslage aus FCD-Daten (Floating Car Data) von 3000 Taxen und stationären Messdaten sowie einer daraus abgeleiteten Prognose, mit der potenzielle Engpässe frühzeitig erkannt und Gegenmaßnahmen getroffen werden können. Ziel von VABENE ist die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Verkehrssystems sowie die Nutzbarkeit der Verkehrsinfrastruktur für Einsatzkräfte auf dem Weg zum Einsatzort. Mithilfe eines Online-Portals verbessert VABENE die Gesamtsicht, aus der heraus die Einsatzkräfte ihre Entscheidungen besser bewerten, koordinieren und Auswirkungen objektiver beurteilen können.
Beispiel 3: Wachsender Güterverkehr im Hamburger Hinterland
Mit dem wachsenden Güterzugverkehr im Hinterland der norddeutschen Häfen Hamburg, Bremerhaven und dem künftigen Jade-Weser-Port Wilhelmshaven befassten sich die DLR-Wissenschaftler 2008 in einer Studie im Auftrag des Landes Niedersachsen. Dabei hat das DLR Untersuchungen einzelner Bahnstrecken und Maßnahmen ausgewertet und daraus ein ganzheitliches Konzept für den niedersächsischen Hafenhinterlandverkehr mit entsprechenden Empfehlungen erstellt. Mithilfe dieses Konzepts hat das Land Sofortmaßnahmen identifiziert, die kurzfristig Entlastung bringen, und auch seinen Fokus für Maßnahmen des Bundesverkehrswegeplanes neu bewertet.
Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Schwerpunkte in der Verkehrsforschung für die nächsten Jahre? Was haben Sie sich für Ihr Institut vorgenommen?
Lemmer: Ein großes Vorhaben mit einem Zeithorizont von mindestens zehn Jahren ist die so genannte Anwendungsplattform Intelligente Mobilität, kurz AIM, die wir im Stadt- und Regionalverkehr von Braunschweig etablieren möchten. AIM hebt unsere Forschung in eine neue Dimension, denn hier können Untersuchungen und Erprobungen im realen Verkehr, auf speziellen Teststrecken und in der Simulation kombiniert werden. Ob Pkw, Bus oder Bahn, AIM bietet für alle Verkehrträger ein passendes Instrumentarium. Damit werden auch Forschungen zum intermodalen, also mehrere Verkehrsträger nutzenden, Reisen möglich. Das ist ein Thema, das mit der Verbreitung von mobilen Geräten wie den Smartphones und zunehmendem Verkehr in den Städten in Zukunft stark an Bedeutung gewinnt. Eine Besonderheit an AIM ist aber auch seine langfristige Ausrichtung: Zum einen können so langfristig Veränderungen im Mobilitätsverhalten untersucht werden. Zum anderen können für das DLR und seine Partner aus Industrie und Forschung die Kosten pro Projekt reduziert werden, da die einmal aufgebaute Infrastruktur nutzbar gehalten wird und so ansonsten projektübliche Einmalinvestitionen wegfallen.
Auf welchen Gebieten forschen Sie im Institut für Verkehrssystemtechnik?
Lemmer: Wir forschen auf drei Gebieten. Im Bereich Bahnsysteme suchen wir nach Lösungen für einen sicheren und wettbewerbsfähigen Bahnverkehr. Im Bereich Automotive untersuchen wir das Verhalten von Autofahrern und entwickeln technische Lösungen für seine Unterstützung. Und schließlich forschen wir an Methoden zur Erfassung und Beeinflussung von Verkehr für ein verbessertes Verkehrsmanagement.
Wie sieht denn die Zukunft für Ihre angestammten Forschungsgebiete aus? Fangen wir mit der Bahnforschung an.
Lemmer: In der Bahnforschung wird uns sicherlich das einheitliche europäische Zugbeeinflussungssystem ETCS (European Train Control System) noch einige Jahre beschäftigen, das die Systeme in der europäischen Bahnlandschaft vereinheitlichen soll. Das Ziel ist, Bahnfahren auch über Grenzen hinweg ohne Hindernisse zu ermöglichen. Das ist nicht nur eine Frage unterschiedlicher nationaler Traditionen und Technologien, sondern auch verschiedener Betriebsordnungen und nicht zuletzt auch eine finanzielle Frage. Wir haben hier eine große Expertise aufgebaut, insbesondere für das Testen neuer Systeme. Mit dem Bahnlabor RailSiTe haben wir hierfür eine europaweit einzigartige Infrastruktur. Ein Thema, das zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist auch der Einfluss des Menschen auf die Sicherheit. Mit benutzerfreundlich gestalteten Systemen für Zugführer und Stellwerkspersonal sollen Fehler vermieden und Bedienhandlungen effizienter abgewickelt werden.
Und wohin führt die Reise in der Automobilforschung?
Lemmer: Im Bereich des Individualverkehrs werden Assistenzsysteme neue Funktionalitäten erfüllen können. Bisherige Assistenzsysteme werden sich weiterentwickeln hin zu einer "vernetzten Assistenz". Neue Kommunikationstechnologien ermöglichen hier die so genannte "Car-to-Car"- oder auch "Car-to-Infrastructure"-Kommunikation. Damit bekommen wir bisher nicht erhältliche Informationen ins Fahrzeug, zum Beispiel über Stau-Enden, Straßenzustände oder Ampelschaltungen. Das ermöglicht zum Beispiel frühere Warnungen vor Gefahren und energiesparenderes Fahren. Unser Ansatz für die Unterstützung des Fahrers hat das Zusammenspiel von Mensch und Technik im Fokus. Wir richten unseren Blick also nicht auf das vollautomatische, sondern auf das hoch automatisierte Fahren. Wir gehen der Frage nach, wie sich Fahrer und Automation am besten ergänzen und wie sie zusammen arbeiten müssen für ein sicheres Fahren. Wie kann der Fahrer entlastet werden und wie kann ihn Automation in kritischen Situationen unterstützen? Wie kann dann das Auto Informationen bei einem Unfall an die Rettungsdienste weitergeben? Auch das Thema Elektro-Mobilität wird uns begleiten, zum Beispiel das optimale Fahren mit Blick auf den Energieverbrauch und die Reichweite. Wie kann es zudem gelingen, die Autofahrer mit allen für sie relevanten Informationen zu versorgen und somit die Akzeptanz von Elektrofahrzeugen beim Nutzer zu erhöhen? Doch das Spektrum der Forschung ist noch größer. Wie lässt sich beispielsweise eine optimale Reiseassistenz umsetzen? Wie lassen sich soziale Netzwerke für die Reiseplanung nutzen?
Das geht schon stark in Richtung Verkehrsmanagement…
Lemmer: Ja, auch hier verfolgen wir einen systemischen Ansatz. Wir betrachten nicht nur den einzelnen Fahrer in seinem Auto, sondern schauen auf einen optimierten Verkehrsfluss. Die Straßen werden immer voller – wie kann es uns da gelingen, den Verkehr trotzdem flüssig zu halten? Wie sieht dies in besonderen Situationen wie beispielsweise bei Großereignissen aus? Hier betreiben wir echte Vorsorgeforschung: Wir sammeln Verkehrsdaten und werten diese aus, entwickeln Simulationsmodelle, die dann im Vorfeld eines Großereignisses den Einsatzkräften wie der Polizei oder Rettungskräften zur Verfügung gestellt werden können. Unsere Verkehrswissenschaftler unterstützen beispielsweise die Sicherheitsbehörden beim Verkehrsmanagement zum Tag der Deutschen Einheit 2011 in Bonn. Ein verstärktes Augenmerk setzen wir für die weitere Forschung auf die Frage, was eigentlich die Qualität von Verkehr ausmacht. Wie kann man diese messen und was sind geeignete Kriterien? Auf dieser Grundlage können wir den Verkehr gezielt beeinflussen und gezielt die Qualität von Verkehr steigern.