05. September 2022
Manuela Braun
Leben mit einem halben Herzen

Megans Füße stehen auf den Pedalen des Ergometers. Das, was sie gleich machen wird, hat sie ihr Leben lang aus Rücksicht auf ihr Herz vermieden: Sie wird bis an ihre körperliche Leistungsgrenze gehen. Die 29-Jährige ist eine Fontan-Patientin - sie ist mit einem komplexen Herzfehler zur Welt gekommen, unter anderem ist die Trennwand zwischen ihren beiden Herzkammern nicht vollständig. Ihr Herz kann bei Anstrengung ihren Körper nur eingeschränkt mit dem lebenswichtigen Sauerstoff versorgen. „Und bitte starten“, sagt Dr. Julian Härtel von der Universitätsklinik Bonn. Megan tritt in die Pedale. Kabel verbinden ihren Körper mit Messgeräten, eine Atemmaske misst die Gase ihrer ausgeatmeten Luft. Um sie herum steht ein ganzes Team aus Kardiologen und Promovierenden, misst den Blutdruck, nimmt Blut am Ohr ab, überwacht alle Werte des Elektrokardiogramms. Zwei Tage später wird sie diesen Belastungstest bei einem reduziertem Sauerstoffgehalt in der Umgebungsluft wiederholen. 

Belastung unter ärztlicher Aufsicht

Die Studie Hypofon, die das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gemeinsam mit dem Universitätsklinikum Bonn und der Sporthochschule Köln in seiner Forschungseinrichtung :envihab in Köln durchführt, will eine lebenswichtige Frage beantworten: Kann jemand wie Megan - eine Person, die keine zwei funktionierenden Herzkammern hat - lange Strecken in der sauerstoffärmeren Luft eines Flugzeugs reisen, kann sie gefahrlos auf einer Berghütte in 2500 Metern Höhe übernachten? Die Suche nach Fontan-Patientinnen und -Patienten war nicht einfach. Einige Hundert Menschen in Deutschland kommen mit einem komplexen Herzfehler zur Welt, der bereits im Säuglingsalter operiert werden muss. 18 Fontan-Patientinnen und -Patienten zwischen 16 und 40 Jahren aus ganz Deutschland konnten schließlich für die Studie gewonnen werden, bei der die Teilnehmenden vier Tage und drei Nächte in der Probandenstation des DLR verbringen und dort unter ärztlicher Aufsicht Belastungstests und weitere Untersuchungen durchführen.

Alltag mit Einschränkungen

Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten Kinder mit einem solch komplexen Herzfehler keine lange Lebensdauer. Die heutige Herzmedizin hat mit mehreren Operationen im Säugling- und Kindesalter erreicht, dass ein Leben mit einem „halben Herzen“ über die Kindheit hinaus möglich ist. Den Betroffenen und deren Familien bleibt aber weiterhin die Sorge, was das operierte Herz leisten kann und darf. „Das ist in den Familien ein sehr angstbesetztes Thema“, sagt Prof. Jens Tank vom DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin, der dort die Abteilung „Kardiovaskuläre Luft- und Raumfahrtmedizin“ leitet. Megans Großeltern leben beispielsweise in England - Kurzstreckenflüge für Besuche dorthin hat sie regelmäßig gemacht, mit Langstreckenflügen hat Megan keine Erfahrung. „Mein Alltag ist eigentlich normal“, sagt die 29-Jährige. „Aber ich meide auch meistens die Situationen, in denen ich die Einschränkungen spüren würde.“ Von der Studie erfuhr sie aus den sozialen Medien und auch ihr Kardiologe empfahl ihr die Teilnahme. „Für mich ist das auch eine gute Gelegenheit, andere Menschen mit ähnlichem Herzfehler kennenzulernen und meinen Körper durchchecken zu lassen.“  

Kooperation mit praxisnaher Forschung

Die Leitung der Studie teilt sich Prof. Jens Tank vom DLR mit Dr. Nicole Müller und Dr. Julian Härtel von der Kinderkardiologie des Universitätsklinikums Bonn. Die Kombination aus Forschungseinrichtung und Klinik bringt allen Beteiligten Vorteile. „Ohne die Uniklinik Bonn würden wir solche Patientinnen und Patienten gar nicht sehen und auch nicht betreuen können“, sagt Dr. Jens Tank. „Ohne das DLR-Team und die Forschungsanlage :envihab hätten wir so eine Studie im großen Rahmen und über diese Dauer nicht durchführen können“, sagt Dr. Nicole Müller. Die Forschung ist nahe an der Anwendung, die Kompetenzen beider Kooperationspartner ergänzen sich. Das Ergebnis: Daten, die es weltweit in dieser Form bisher nicht gibt.

Höhenluft im Schlafzimmer

Megan hat auf dem Ergometer mittlerweile eine Viertelstunde lang ihrem Körper eine große Anstrengung abverlangt. Sie atmet zunehmend mühsam ein und aus. Regelmäßig hält ihr ein Mitarbeiter eine Tafel mit einer Skala hin – wie fühlt Megan sich? Megan tippt mit ihrem Finger entschlossen auf die Kennzahlen der Skala. Jeder Herzschlag, jeder Atemzug wird zu einem wichtigen Datensatz, der dabei helfen wird, die Reaktionen ihres Körpers und seine Leistungsfähigkeit zu verstehen. Die vier Tage und drei Nächte, die sie als Patientin in der Hypofon-Studie verbringt, sind mit Experimenten ausgelastet: Tagsüber stehen Sprung- und Stehtests, Blutabnahmen, Druckmessungen am Herzen und Belastungstests auf dem Ergometer auf dem Programm, in den Nächten, wenn sie ihre Atmung nicht bewusst kontrolliert, werden Herz, Atmung und Hirnströme vermessen und erfasst. Um unter kontrollierten Bedingungen die Reaktion auf eine verminderte Sauerstoffzufuhr zu erforschen, werden am zweiten Studientag die Schlaf- und Untersuchungszimmer anteilig mit Stickstoff geflutet - dann wird die Luft in der Forschungseinrichtung :envihab des DLR für die restlichen Studientage nur noch 15,2 Prozent statt 21 Prozent Sauerstoff enthalten, vergleichbar mit der Höhenluft in den Bergen bei 2500 m oder einem Passagierflugzeug bei maximaler Reiseflughöhe. 

Grenzen austesten

Die Protokolle für die Experimente, Tagesabläufe und gesamte Logistik haben die beteiligten Teams  gemeinsam geplant. Von den Versuchen und der Datenauswertung werden die Patientinnen und die Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler profitieren. „In meiner Arbeit in der Kinderkardiologie fragen mich Eltern immer wieder, ob ihr Kind Ski fahren oder nach Australien fliegen darf – bisher gibt es nur wenige Daten, die ich für meine Entscheidung als Grundlage nehmen kann“, sagt Oberärztin Dr. Nicole Müller. „Oft werden Kinder mit einem solchen Herzfehler in Watte gepackt.“ Aber das sei gar nicht so erstrebenswert: „Kinder gehören in Sportvereine und müssen auch ab und zu ihre Grenzen austesten.“ 


Megan ist mit 29 Jahren kein Kind mehr. Wie viele der anderen Patientinnen und Patienten hat sie für sich ein gutes Gespür dafür gefunden, was sie sich zutraut. Nachdem sie aber die zunehmende Belastung auf dem Ergometer über 20 Minuten lang durchgehalten hat, ist sie dennoch etwas ins Grübeln gekommen. „Mehr Sport – das werde ich in Zukunft bestimmt angehen.“

Prof. Dr. Jens Tank ist seit 2017 am DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin und baut dort als Leiter der Abteilung „Kardiovaskuläre Luft- und Raumfahrtmedizin“ die Herzkreislaufforschung aus. Jens Tank ist Facharzt für Innere Medizin, Klinische Pharmakologie und Pathophysiologie sowie Sportarzt. Seine klinische Ausbildung hat er an der Charité in Berlin erhalten. An der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) leitete er zuvor von 2008-2016 die Klinische Forschung am Institut für Klinische Pharmakologie. Seit 2011 hat er eine W2-Universitätsprofessur für kardiovaskuläre klinische Pharmakologie an der MHH. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben der Luft- und Raumfahrtmedizin seltene Erkrankungen des autonomen Nervensystems, orthostatische Hypotonie, therapieresistente arterielle Hypertonie und Herzinsuffizienz.

Über die Autorin
Manuela Braun macht seit 2010 Öffentlichkeitsarbeit für das DLR. Als ausgebildete Journalistin in Print und Online ist sie am liebsten dort vor Ort, wo Forschungsthemen zum Greifen nah sind. zur Autorinnenseite