DLR Magazin 147 - page 34-35

INTERVIEW
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Projektstart war 2009 – bis zum Erfolg war es doch ein weiter
Weg, oder?
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In der Tat. Bevor man Verkehrsmanagementlösungen anwendet,
muss man die aktuelle Lage erfassen und verstehen. Wir haben uns
zunächst angeschaut, wie die Stadt wächst und welche Bedingungen
vorherrschen. Es galt, die Verkehrslage der Stadt überhaupt erst einmal
flächendeckend zu erfassen. Wir mussten den Behörden darstellen, wo
genau die Verkehrsprobleme entstehen. Als Informationsgrundlage
nutzten wir das Floating Car Data System, also die Datengewinnung
aus dem fließenden Verkehr, wie wir sie auch in Europa beispielsweise
in Berlin seit einigen Jahren erfolgreich praktizieren. Das System beruht
auf GPS-Daten, die von den Fahrzeugen – in Berlin sind es Taxis – an
eine Verkehrszentrale übermittelt werden, wo sie Basis von Staumel-
dungen werden. In einem zweiten Schritt haben wir ein kamerage-
stütztes Intersection Monitoring System an verschiedenen Kreuzungen
installiert. Das bot uns einen differenzierten Blick darauf, wie sich der
Verkehr in diesem Kreuzungsbereich verhält. Man sieht, wie Verkehrs-
regeln befolgt werden und wie die Infrastruktur genutzt wird. Das ist
für uns wichtig, denn der chinesische Verkehr ist schon anders als der
in Deutschland.
Was ist in China anders? Fährt der chinesische Autofahrer anders
als ein europäischer?
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Ganz klar: Ja. Das beginnt schon mit der Einstellung zum Auto. Es
ist ein Statussymbol, was eben dazu führt, dass es so viele Fahrzeuge
gibt. In Hefei waren 2013 1,4 Millionen Fahrzeuge zugelassen, 2010
waren es erst etwas mehr als eine halbe Million. In Shanghai versucht
man dem entgegenzuwirken, indem allein für die Zulassung mittler-
weile 10.000 bis 20.000 Euro bezahlt werden müssen. Auch in der
Fahrweise gibt es große Unterschiede. Straßenmarkierungen bei-
spielsweise gibt es zwar, aber
sie werden kaum beachtet. Im
Gegensatz dazu werden Am-
pelsignale sehr wohl befolgt,
denn deren Missachtung
zieht eine stärkere disziplina-
rische Konsequenz nach sich.
Andere Verkehrsregeln wer-
den „individuell ausgelegt“,
es herrscht in Chinas Verkehr
mehr die Selbstorganisation.
Für uns Europäer erscheint er als ziemliches Gewusel und man fragt
sich, wie das alles funktioniert. Vorausschauendes Fahren zum Bei-
spiel funktioniert dort nur in einem kleineren Radius – für die nächs-
ten fünf Meter. Dadurch ist der gesamte Verkehr etwas langsamer als
in Europa, weil man sich nie sicher sein kann, ob die Vorfahrt wirklich
beachtet wird.
Apropos andere Kulturen: Wie gestaltete sich die Projektarbeit
mit den chinesischen Kooperationspartnern?
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In China spielt das Einhalten der Hierarchie eine große Rolle. Eine
gute Vernetzung ist unabdingbar. So war es für uns zu Projektbeginn
sehr wichtig, einmal beim Polizeichef gewesen zu sein, denn seine
Meinung zum Projekt ist für das Weiterkommen ausschlaggebend.
Wir konnten ihn vom praktischen Nutzen des Projekts überzeugen.
Danach funktioniert die Zusammenarbeit auf unteren Ebenen sehr
gut.
Konnte das DLR mit seiner Arbeit in Hefei tatsächlich etwas
bewirken?
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Definitiv. Wir sind sehr stolz, dass unser Projekt tatsächlich zur An-
wendung kam. Heute liegen die Verkehrsinformationen der Polizei im
Verkehrsmanagementcenter vor und werden dort genutzt. Aber auch
im Stadtplanungsamt sind unsere Ergebnisse in das Handbuch für die
Quartiersplanung eingeflossen und bilden die Grundlage für neue
Planungsprozesse.
Zur Person
Dipl.-Ing. Alexander Sohr studierte Tech­
nische Informatik und arbeitet seit 2005
im DLR-Berlin in der Abteilung Verkehrs-
management. Er beschäftigt sich dort mit
Verkehrsproblemen in (Mega)cities.
Das Projekt
Metrasys wurde als eins von zehn Projekten
im Rahmen des Programms „Forschung für
nachhaltige Entwicklung der Megastädte
von morgen – Energie- und klimaeffiziente
Strukturen in urbanen Wachstumszentren“
(Sustainable Mobility for Mega Cities) vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung
gefördert. Hierbei werden für den Bereich
Mobilität und Verkehr Lösungen für dring­
liche Probleme in heutigen und zukünftigen
Megastadt-Regionen entwickelt.
Die Stadt Hefei
Hefei ist die Hauptstadt der Provinz Anhui
und liegt etwa 450 Kilometer westlich von
Shanghai. Sie bildet damit die Schnittstelle
zwischen Zentralchina und der boomenden
Küstenregion. Das Stadtgebiet umfasst 7.266
Quadratkilometer, von denen 640 Quadrat-
kilometer bereits urbanisiert sind. Die Gesamt-
bevölkerung in der Stadtregion Hefeis beträgt
rund sieben Millionen Einwohner.
Chinesische Großstädte als Forschungsgegenstand –
Interview mit dem Verkehrssystemtechniker Dipl.-Ing. Alexander Sohr
Ist Metrasys auch auf andere chinesische Städte übertragbar?
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Ein Fokus des Projekts war, dass die Konzepte genau das sein sollen:
übertragbar, auch auf andere Städte weltweit. Mittlerweile sind wir
auch in Shanghai sehr gut vernetzt. In Zhengzhou, der Hauptstadt von
Henan, der Nachbarprovinz von Anhui, hatten wir auch schon ein
Folgeprojekt. Und das Floating Car Data System dient in vielen ande-
ren chinesischen Städten als Informationsgrundlage für das Verkehrs-
management.
Funktionieren die entwickelten Konzepte überall?
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Eins zu eins übertragbar sind die Konzepte sicherlich nicht. Univer-
sale Lösungen fußen auf europäischen Vorbildern und sind natürlich
nicht einfach auf chinesische Städte anwendbar. Gründe dafür sind
unter anderem die Größe und die Geschwindigkeit des Verkehrs, die
dort ganz anders sind. Dennoch sind einige Anregungen durchaus
sinnvoll, wie zum Beispiel verkehrsberuhigte Zonen in der Innenstadt
zu schaffen. Hochstraßen und sogenannte Ringroads können in einer
von Straßen durchschnittenen Stadt neue Räume schaffen, Räume,
die dann zu Fuß wieder erlebbar werden. Doch das sind auch keine
Allheilmittel gegen Verkehrsstau und Kapazitätsprobleme.
Nachhaltigkeit und Klimaschutz. War das ein Thema?
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In China wurden Städte inzwischen gesetzlich verpflichtet, Luft-
schadstoffe zu messen, zu protokollieren und die Daten weiterzugeben,
mit dem Ziel, sie vergleichbar zu machen. Dies soll gleichzeitig den
Anreiz geben, mehr für den Klimaschutz zu tun. Als wir mit Metrasys
anfingen, gab es kaum Schadstoffmessungen, daher war für uns das
Modellieren der Emissionen relativ schwierig. Wir hatten dann nur
Messdaten von wenigen Tagen. Inzwischen gibt es flächendeckende
Schadstoffmessungen.
Was kann das Verkehrsmanagement imHinblick auf die Reduktion
von Emissionen tun?
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In erster Linie geht es hier um neue Strategien zum Vermeiden oder
Verlagern von Verkehr. Optimierung des Verkehrs bedeutet weniger
Stau und somit auch weniger Emissionen. Die Maßnahmen dafür
müssen gebündelt werden. Erst gemeinsam haben sie dann den ent-
sprechenden Effekt auf das globale Klima.
Ist das DLR nach Projektende noch weiter in Hefei tätig?
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Ja, wir sind vor Ort weiter aktiv. Mit unserem Kooperationspartner
aus Hefei haben wir ein gemeinsames Forschungslabor hier im DLR,
das vom Ministry of Science and Technology of China, kurz MOST,
finanziert wird. Dort entwickeln wir Ansätze weiter und gehen zusam-
men in neue Projekte. MOST finanziert
ein Projekt zur Weiterentwicklung des
Intersection Monitoring. Darüber hin-
aus gibt es derzeit Gespräche zu einem
Verkehrsmanagementprojekt einer klei-
neren Stadt in der Nähe von Hefei. Das
ist eine von den 49 Millionenstädten
Chinas. Das könnte sich zu einem Pilot-
projekt entwickeln, von dem viele wei-
tere profitieren können. Zudem haben
wir ein gemeinsames Projekt mit dem
Institut für Optik und Feinmechanik der Chinesischen Akademie der
Wissenschaften (CAS), bei dem es um die Erfassung verkehrsbeding-
ter Schadstoffe im Kreuzungsbereich geht. Ziel hierbei ist, den Schad-
stoffausstoß durch einen optimalen Verkehrsfluss zu minimieren.
Vielen Dank für das Gespräch.
RASANTE ENTWICKLUNG
UND ZÄHER VERKEHR
A
utolawinen, verstopfte Kreuzungsbereiche
und schleppender Verkehr bestimmen das
tägliche Bild auf den Straßen der Weltmetropolen.
Infolge andauernder Landflucht lebt seit 2007 erst-
mals mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in
urbanen Gebieten. Weltweit gibt es 29 Megacities,
allein 17 auf dem asiatischen Kontinent, fünf davon
in China. Und die Zahl wird weiter ansteigen. Darü-
ber hinaus gibt es etwa 300 Millionenstädte, in de-
nen eine bis anderthalb Millionen Menschen leben.
Um dem Mobilitätsbedarf der dort lebenden Bevöl-
kerung gerecht zu werden, sind neue Verkehrskon-
zepte gefragt. Das DLR-Institut für Verkehrssystem-
technik ist seit mehr als zehn Jahren unterwegs in
China, um die Behörden dort bei der Bewältigung des
riesigen Verkehrsaufkommens zu beraten und mit
nachhaltigen Verkehrsmanagementkonzepten zu unterstützen. Wie sich die deutschen Verkehrs-
forscher dort einbringen, welche Erfolge sie erzielt haben und welchen Herausforderungen sie sich
zu stellen hatten, erklärt Dipl.-Ing. Alexander Sohr in einem Gespräch mit Melanie-Konstanze
Wiese, verantwortlich für die Standortkommunikation im DLR Berlin.
Herr Sohr, Sie befassen sich seit einigen Jahren mit dem Verkehr chinesischer Städte, ins-
besondere mit Hefei. Warum diese hierzulande wenig bekannte Stadt?
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Gegenstand unseres Projekts Metrasys sind Verkehrsprobleme zukünftiger Megacities. Hefei,
die Hauptstadt der Provinz Anhui, ist derzeit zwar noch keine Megacity, also keine Stadt mit
mehr als zehn Millionen Einwohnern, befindet sich aber auf dem besten Weg dahin. Als wir
2009 das Projekt starteten, hatte Hefei etwa fünf Millionen Einwohner. Zu Projektende 2013
waren es dann schon etwa sieben Millionen. Nach offiziellen Angaben wächst die Bevölkerung
jährlich um etwa 200.000 bis 300.000 Einwohner. Es ist also abzusehen, wann die Stadt zur
Megacity wird. Das machte Hefei für uns zu einer Modellstadt par excellence.
Was macht die Zusammenarbeit mit dem DLR für China so interessant? Und warum ist
China für die DLR-Verkehrssystemtechniker attraktiv?
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Der Bedarf an Technologie, Wissen und Erfahrung ist in China riesengroß. Wie geht man mit
Verkehr um, der zunehmend auf das Auto zentriert ist? Was gibt es für Technologien, um den
Verkehr zu optimieren? Für uns wiederum ist die Zusammenarbeit deshalb so interessant, weil
uns chinesische Städte aufgrund der Größen einzigartige Forschungsmöglichkeiten bieten.
Mit derartigen Verkehrsmengen umzugehen, ist eine große Herausforderung. Europäische
Städte bieten uns mangels Größe nicht die Möglichkeit, Datenmengen dieser Größenord-
nung zu verarbeiten. Deutschlands bevölkerungsreichste Stadt ist Berlin mit knapp 3,5 Milli-
onen Einwohnern. Obwohl deutsche Städte nicht so schnell wachsen, können wir aber doch
einiges mit unseren Ballungsräumen vergleichen.
Worum ging es in Ihrem Projekt genau?
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In Metrasys ging es darum, wie man den schnell wachsenden Verkehr in einer Stadt wie
Hefei nachhaltig entwickeln kann. Neben der aktuellen Verkehrslage, die zu diesem Zeit-
punkt schon sehr angespannt war, mussten zukünftige Probleme erfasst werden. Hierzu
arbeiteten wir eng mit den dortigen Behörden zusammen und haben nachhaltige Lösun-
gen im Verkehrsmanagementcenter der Polizei von Hefei implementiert. Darüber hinaus
unterstützten wir das Verkehrsplanungsamt. Wir entwickelten damals Szenarien für den
Verkehr von 2020 und 2030, um den Behörden zu zeigen, was passiert, wenn sich der
Verkehr weiter in dieser Geschwindigkeit entwickelt. Wo geht die Reise hin, wenn man
dem vorgeschriebenen Stadtentwicklungsplan folgt? Anhand dieser Szenarien konnten
wir Alternativen aufzeigen und herausarbeiten, welche Wege es gibt, um die Stadt ein
wenig umweltfreundlicher zu gestalten.
1...,14-15,16-17,18-19,20-21,22-23,24-25,26-27,28-29,30-31,32-33 36-37,38-39,40-41,42-43,44-45,46-47,48-49,50-51,52-53,54-55,...56
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