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SCHWERELOSIGKEITSFORSCHUNG
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SCHWERELOSIGKEITSFORSCHUNG
2.500 Kugeln in der Schwerelosigkeit aufzeichnen soll, macht nicht,
was sie soll, eine Festplatte im Instrument versagt außerdem ihren
Dienst und muss ausgetauscht werden. Der Kran surrt erneut, vorher
sorgfältig angezogene Schrauben werden wieder gelöst und das un-
terste Modul wird wieder von der Nutzlast getrennt. Das Team des Ins-
tituts für Materialphysik im Weltraum nimmt es mit Fassung. Was mit
der Höhenforschungsrakete fliegt, ist Grundlagenforschung und keine
Routine. „So etwas ist bei einem solchen Vorhaben normal und der
professionelle Umgang damit ein Teil der Aufgabe“, sagt DLR-Ingenieur
Frank Scheuerpflug.
Mittlerweile ist es spät geworden, draußen ist es wie immer hell. Das
Team des Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin verschwindet in
Zur selben Zeit werden einige Ballonstarts auf Esrange durchgeführt.
Das Team von MAPHEUS-5 wird sich mit den Bedürfnissen und Terminen
dieser Starts arrangieren müssen. „Nicht so schlimm“, findet Frank
Scheuerpflug. „Die Ballone benötigen einen in engen Toleranzen
definierten Wind, sodass auch eine Situation nicht unwahrscheinlich ist,
in der sich ein Countdown für einen Ballon nicht lohnt, wir aber mit
unserer Rakete durchaus eine Chance haben“. Zu diesem Zeitpunkt
weiß allerdings auch noch niemand, wie schwierig der Wind es dem
MAPHEUS-Team machen wird. Niemand weiß, dass alle eine gute Woche
später eine zähe Nachtschicht verbringen werden, nur um dann doch
am frühen Morgen den Countdown wegen des ungünstigen Windes
abzubrechen. Der Start wird letztendlich bis zum 30. Juni warten
müssen – und dann wie im Bilderbuch ablaufen.
Stück für Stück zur fertigen Nutzlast
Aber noch sieht alles gut aus. Gleichmäßig surrt der Kran unter dem spitz-
winkeligen Dach der „Church“. Aus vier einzelnen Experiment-Modulen,
einem Bergungssystem, einem Service-Modul, einem Kaltgassystem und
einer Raketenspitze soll die meterhohe Payload, die Nutzlast, zusammen-
gefügt werden, die dann von den zwei Raketenmotoren bis in eine Höhe
von fast 260 Kilometern zu befördern ist. Marcus Hörschgen-Eggers
drückt auf den Knopf: Das zweite Element schwebt in die Luft und wird
von oben auf das erste Experiment-Modul gesetzt. Schraube um
Schraube wird angezogen, goldfarbenes Modul um goldfarbenes Modul
montiert. Die Nutzlast wächst in die Höhe. Dann schwebt die Raketen-
spitze fast bis unters Dach. Die letzten Schraubarbeiten erledigt Jürgen
Knof auf dem obersten Tritt der fahrbaren Leiter, während Philipp
Koudele, Frank Scheuerpflug und Nils Höger ganz oben auf der Plattform
stehen und die Raketenspitze dafür in die richtige Position bringen.
Währenddessen montiert das Launch-Team der MORABA in der angren-
zenden Halle die eingetroffene brasilianische Düse. „Tillträde Fjörbudet“,
Eintritt verboten, warnt rote Neonschrift. Auf der Metalltür zur Motoren-
halle klebt ein Schild: Danger Area. Wer hier arbeitet, legt sein Handy in
den Holzkasten vor der Tür und betritt die Halle in antistatischer Klei-
dung. In den Motoren schlummern 1.566 Kilogramm Explosivstoff und
sollen auch nicht vorzeitig geweckt werden.
Am Abend eine schlechte Nachricht: Das Experiment MEGraMA 2.0
macht Schwierigkeiten im Flight Simulation Test, bei dem die gesamte
Nutzlast mit der Kommunikationseinheit am Boden zusammenarbeiten
und funktionieren muss. Die Kamera, die die Stoßbewegungen von
dieser Zeit immer wieder in seinem Labor und zieht die nächsten Probanden für den
Flug. Noch ist das Modul für die Pflanzen leer – erst wenige Stunden vor dem Start
werden die lebenden Proben samt Anlage in die startbereite Rakete eingebaut.
Abwechslung im Missionsalltag auf Esrange bringen die vereinzelten Besuche von
Elchen am Waldesrand oder auf den Parkplatzflächen. Insgesamt drei Elche leben
auf dem weitläufigen Gelände des Raketenstartplatzes und tauchen ab und an
unvermutet an der Montagehalle auf. Ansonsten spielt sich das Leben der Teams
zwischen Neonlicht-Halle, Aufenthaltsraum mit Billard- und Kickertisch sowie den
Küchen ab, in denen zwischendurch schnell gekocht wird. Bayerische Wurst und
ein paar Flaschen Bier aus der Heimat, im Container nach Schweden verschickt,
ein paar Zutaten aus dem 45 Kilometer entfernten Supermarkt oder unkomplizierte
Fertigsuppen. Esrange liegt für deutsche Verhältnisse weitab vom Schuss, für
schwedische Verhältnisse gleich ums Eck von Kiruna, das nach nur einer dreiviertel
Stunde Autofahrt durch den Wald entlang malerischer Seenlandschaften erreicht
wird.
Klettern in der Stahl-Kathedrale
Während die Festplatte des MEGraMA-Instruments ausgetauscht wird, rollt neben-
an der erste Motor der zweistufigen Rakete durch den Tunnel in Richtung Startturm.
Im Schritt-Tempo fährt der Wagen mit seiner Last zum Skylark-Tower. 1.566 Kilo-
gramm Explosivstoff werden gleich aufgerichtet und an der 30 Meter hohen Rampe
montiert. Für den Zeitplan sieht alles noch gut aus. Am Wochenende ist Mittsommer
in Schweden – und dann ruht für die schwedischen Kollegen, die beim Einbau in die
Startrampe helfen, die Arbeit. Doch Startrampe ist schlichtweg das falsche Wort.
Der Skylark-Tower ist eine Kathedrale in Rostfarben: Stahlverstrebungen, steile Trep-
pen und Plattformen bilden eine Konstruktion, in die die insgesamt 13 Meter hohe
Forschungsrakete eingebaut wird. Die Stimmen hallen durch die Stahl-Kathedrale,
grelles Lampenlicht strahlt das Team an, das mit Helm und Werkzeug in die Streben
klettert. Knirschend hebt der Wagen den ersten Raketenmotor in die Vertikale. Auf
allen Etagen des mächtigen Turms werden nun Hände in Richtung Raketenmotor
ausgestreckt. Sobald der erste Teil der Rakete am Stahlseil in die Höhe gezogen
wurde, kann der nächste, der untere Teil, folgen. Dann würde nur noch die Nutzlast
selbst fehlen, die zuletzt als Spitze aufgesetzt wird.
Doch dann kommen die ersten Warnrufe: Das Stahlseil, an dem der Raketenmotor
in die Höhe gezogen wird, läuft an einer schlecht einsehbaren Stelle über eine Kante
und beginnt sich aufzuspleißen. – „Alles wieder aus der Startrampe heraus!“, ruft
Per Baldemar, der schwedische Sicherheitsbeauftragte. „Morabist“ Wolfgang Jung
klettert die letzte Treppe hinunter. „Jetzt müssen die Schweden erst ein neues Stahlseil
besorgen und einbauen“, sagt er. Eine doppelt schlechte Nachricht, denn diese Stahl-
seile gibt es nicht überall – und schon gar nicht am Mittsommerwochenende, wenn
jeder Handel geschlossen ist. Aber niemand möchte riskieren, tonnenschwere Rake-
tenteile mit Zündstoff an einem leicht angeschlagenen Stahlseil zu ziehen. Zwangs-
pause für alle Beteiligten. Projektleiter Frank Scheuerpflug gewinnt dem Ganzen
etwas Positives ab: „Alle haben die letzten Tage ohne Pause durchgearbeitet, jetzt gibt
es zum ersten Mal einen freien Tag in der Mission.“ Das Team der Swedish Space
Corporation SSC klemmt sich dahinter – und schafft es, selbst über die Feiertage ein
Stahlseil für ihren Startturm zu besorgen. Am Montag soll das Seil eingebaut und
geprüft werden. Für die Ingenieure und Wissenschaftler des DLR bedeutet dies
zunächst: Zeit für einen kurzen Ausflug nach Kiruna, vielleicht endlich mal Wäsche
waschen oder die Arbeiten erledigen, die in den vergangenen Tagen liegen geblieben
sind. Bisher hat die Mission dafür nur wenig Zeit gelassen und den Rhythmus vor­
gegeben.
Schließlich ist die Anlage im Skylark-Tower wieder startklar – die MAPHEUS-5-Mission
kann weitergehen. Das MEGraMA-Experiment ist wieder eingebaut, das Team hat
erneut mit einem Flight Simulation Test geprüft, ob die zusammengebaute Nutz-
last auch im Flug miteinander und mit dem Boden kommuniziert. Das DLR-Team
legt los: Wie am Fließband werden zwei Raketenmotoren in den Skylark-Tower
gebracht und am neuen Seil in die Höhe gezogen. Die Nutzlast erhält ihren Schrift-
zug MAPHEUS-5, und Frank Scheuerpflug trommelt das Missionsteam für das
traditionelle Gruppenbild zusammen. Mit der Ankunft der Nutzlast im Skylark-
Tower beginnt dort die Millimeterarbeit in großer Höhe und auf engstem Raum.
Zwischen Streben, schmalen Plattformen und der obersten Etage des Startturms
turnen und klettern die MORABA-Männer. Fällt hier ein Werkzeug aus der Hand,
schlägt es 30 Meter weiter unten auf. Konzentriert wird gemeinsam die Nutzlast
auf die beiden Motorenteile gesetzt und verschraubt.
„ALLES WIEDER AUS DER STARTRAMPE
HERAUS!“
DIE EXPERIMENTE
AN BORD DER RAKETE
Die letzten Schraubarbeiten in der„Church“
Experiment MEGraMa: Acht Magnete setzen wechselweise
2.500 kleine Kugeln in Bewegung, eine Kamera filmt, wie diese
in Schwerelosigkeit wieder zur Ruhe kommen.
Experiment Röntgenradiografie: Während des Fluges durch die
Schwerelosigkeit zeichnet X-RISE mit einer Kamera Diffusions-
und Erstarrungsprozesse im Sekundenrhythmus auf.
Experiment GOLD-ESL: Im Elektrostatischen Levitator
werden Proben im Schwebezustand geschmolzen.
Experiment Biologie: Wie reagiert die Acker-Schmalwand
(Arabidopsis thaliana) auf das Fehlen der Erdanziehungskraft?
Eine der beiden Raketenstufen auf dem Weg in den Skylark-Tower
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