DLR Magazin 150 - page 52-53

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Als nach dem Versailler Vertrag von 1919 dem Deutschen Reich Luft-
fahrtforschung verboten worden war, mussten sich die Forscher teils
andere Aufgaben suchen. So gelangte das Wissen aus der Luftfahrt in
den Automobilbau und führte dort zum Boom der sogenannten Strom-
linienfahrzeuge. Die Aerodynamiker halfen, eine ganze Palette von
Fahrzeugen zu kreieren, deren Formgebung sich nach aerodynamischen
Gesichtspunkten richtete. Beispiele wie der Schlörwagen der Göttinger
Aerodynamischen Versuchsanstalt, quasi ein „Flügel auf Rädern“, der
Rumpler Tropfen-Wagen oder der Mercedes-Benz T 80 üben bis heute
eine Faszination auf viele Betrachter aus.
Auf der anderen Seite war es wohl nur der Idee des Schiffsingenieurs
Anton Flettner zu verdanken, dass aus einer theoretischen Überlegung
Prandtls für einen drehenden Flugzeugflügel der sogenannte Flettner-
Rotor wurde: Ein drehender Zylinder auf Deck ist in der Lage, ähnlich wie
ein Segel aus der Kraft des Windes ein Schiff anzutreiben. In jüngerer
Zeit wurde diese Idee im „E-Ship 1“ umgesetzt.
Kostspielige Forschungsinstrumente
Der Bau und Unterhalt von Windkanälen war von Anfang an eine kost-
spielige Sache. Je größer die „Windmaschinen“ wurden, und je mehr
Hightech in ihnen steckte, desto teurer wurden sie. Kein Wunder, dass
die größten europäischen Windkanäle heute von einem internationalen
Verbund betrieben werden. Das trifft auf den Europäischen Transsoni-
schen Windkanal in Köln ebenso zu wie auf die Deutsch-Niederländi-
schen Windkanäle, unter deren Dach gleich eine ganze Reihe großer
Windkanäle in Holland sowie in den DLR-Standorten Köln, Göttingen
und Braunschweig vereint sind.
Windkanäle auf der ganzen Welt erwiesen sich als erstaunlich langlebig.
Obwohl sie doch in einem Bereich eingesetzt werden, der zur Spitze der
Hochtechnologie zählt, und für den die neuesten Super-Computer gera-
de gut genug sind, sind viele Windkanäle seit Jahrzehnten im Einsatz.
Natürlich spielt dabei der hohe Preis für den Neubau eines großen Wind-
kanals eine Rolle. Hinzu kommt jedoch, dass sich Windkanäle als sehr
flexibel zeigten und immer wieder mit neuester Messtechnik moderni-
sieren ließen. Manchmal gehen diese Modernisierungen aber auch weit
darüber hinaus und greifen massiv in die bauliche Substanz ein, wie
beim Transsonischen Windkanal Göttingen, der nach mehreren solcher
„Faceliftings“ kaum noch Ähnlichkeit mit dem Ursprungskanal hat.
Nutzer von Windkanälen schätzen überdies die Erfahrungen und die
Vergleichbarkeit der Messergebnisse in einem bewährten Windkanal.
Die Windkanal-Experten kennen ihr Untersuchungsinstrument und wis-
sen neue Daten richtig einzuschätzen. Jeder Neubau benötigt hingegen
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Monumente der Forschung
„Ode an den Windkanal“ – Teil 10 und Schluss der Magazinserie
DLR-Magazin 150, Juni 2016
zunächst eine gewisse Einarbeitungszeit, in der die Betreiber seine
Stärken und auch Schwächen kennenlernen. Trotz dieser Argumente
sagt die Zahl der Neubauten von Windkanälen etwas über die For-
schungsprioritäten einer Gesellschaft aus. Während in Europa und
Nordamerika seit über 25 Jahren kein neuer richtig großer Windkanal
gebaut worden ist, dafür aber viele Windkanäle für die Automobil­
industrie entstanden, schießen in China solche Anlagen wie Pilze aus
dem Boden. Ein Beleg für die Ambitionen einer aufstrebenden Luft-
fahrtnation.
Dafür ist in der westlichen Welt ausgehend von den Vereinigten Staaten
eine neue Art der Nutzung von Windkanälen populär geworden: Für die
Modesportart des „Skydiving“ sind an vielen Orten Windkanäle gebaut
worden, die nichts mehr mit Forschung zu tun haben. Hier geht es ein-
fach um die Möglichkeit, das Prinzip des Windkanals für die Erfüllung
des Menschentraums einzusetzen, ohne Hilfsmittel im Luftstrom zu
fliegen.
Begehrte Beute
Während der Neubau von Windkanälen ein Anzeichen für große Ambi-
tionen in der Luftfahrt ist, bedeutete auf der anderen Seite der Verlust
von Windkanälen für das betreffende Land einen Rückschlag in der
Fähigkeit, in der modernen Luftfahrt mitzumischen. Prominentestes
Beispiel dafür ist Deutschland, dem nach dem Zweiten Weltkrieg nicht
nur Luftfahrt, sondern auch Luftfahrtforschung jahrelang verboten war.
Sichtbares Zeichen dafür war die Demontage fast sämtlicher Windkanä-
le auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reichs. Nicht alle Windka-
näle wurden jedoch zerstört. Viele Anlagen wurden von den alliierten
Siegermächten in Deutschland ab- und in ihren Heimatländern wieder
aufgebaut. So gelangte beispielsweise ein Windkanal für Hochge-
schwindigkeitsforschung, der von dem Team um Wernher von Braun für
die Untersuchung neuer Raketen entwickelt worden war, in die Vereinig-
ten Staaten. Ein Braunschweiger Windkanal leistete nach dem Krieg im
Vereinigten Königreich seine Dienste, und die Franzosen demontierten
in den Alpen ein ganzes Ensemble von noch nicht einmal ganz fertigge-
stellten Hochleistungswindkanälen, um sie in Frankreich in Betrieb zu
nehmen. Diese französischen Windkanäle deutschen Ursprungs sind
übrigens bis heute noch im Einsatz. Der ehemalige Braunschweiger
Windkanal wurde inzwischen stillgelegt, ein Teil, die sogenannte Kom-
pressorschnecke, gelangte wieder nach Deutschland zurück und steht
heute als Denkmal auf dem DLR-Gelände in Braunschweig. Auch die
Sowjetunion nahm mehrere erbeutete deutsche Windkanäle nach dem
Zweiten Weltkrieg für eigene Zwecke in Betrieb.
Extravagante Bauten
Völlig abseits ihrer Nutzung für die Forschung und für kommerzielle
Interessen sind Windkanäle Vertreter einer ganz eigenen Architektur-
form geworden. Egal ob als hundert Meter lange dicke Röhren, die
sogenannten Rohrwindkanäle, oder als Windkanäle Göttinger Bauart,
die wie der Buchstabe O geformt sind, – die Windmaschinen haben
ihren eigenen Stil. Nicht nur die äußere Form, sondern auch die innere
Gestaltung hat dabei eine besondere Ästhetik; bei den großen Exem­
plaren beispielsweise sind es riesige Propeller inmitten eines gewölbten
Raums. Der große Windkanal in Berlin-Adlershof und der dortige eiför-
mige Trudelwindkanal stehen nicht nur als Relikte der Forschung, son-
dern als Zeugen einer speziellen Art von Architektur unter Denkmal-
schutz. Wer diese ungewöhnlichen Bauten gesehen oder besser noch,
einmal in ihnen gestanden hat, wird diesen ganz eigenen Eindruck nie
vergessen. So ist es auch kein Wunder, dass gerade dieses Ensemble in
Berlin-Adlershof immer wieder einmal als Ort für Filmproduktionen
dient. Am eindrucksvollsten hat wohl der Hollywood-Blockbuster
„Aeon Flux“ die Windkanäle in Szene gesetzt, ein Science-Fiction-
Film, für den die Bauten aus den Dreißigerjahren die perfekte Kulisse
für eine utopische, fremdartige Welt der Zukunft abgaben.
Und dies scheint tatsächlich eine treffende Beschreibung von Wind­
kanälen zu sein: ungewöhnliche, ja fremdartige Bauten, oft aus einer
vergangenen Zeit stammend, in denen doch hochmoderne Forschung
stattfindet, womit sie quasi Brücken zwischen Vergangenheit und Zu-
kunft schlagen.
Gesteuert werden Windkanäle aus teils futuristisch anmutenden Kommandozentra-
len, wie hier im Großen Niedergeschwindigkeitswindkanal in den Niederlanden
Windkanäle sind oft erstaunlich lange Zeit im Einsatz. Immer wieder müssen sie
modernisiert werden, wie der Transsonische Windkanal in Göttingen. Er wurde seit
seinem Bau 1963 mehrfach umgerüstet.
Unsichtbares sichtbar gemacht: Windkanäle zeigen, wie Objekte umströmt werden. Das Bild aus dem DLR_School_Lab Göttingen veranschaulicht das.
DIE WINDKANALSERIE IM ÜBERBLICK
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