Es war der 7. Dezember 2012. Ein klarer frühwinterlicher
Tag begann in der DLR-Flugabteilung in Braunschweig. Eine letzte
Nacht hatte das Advanced Technologies Testing Aircraft System,
kurz ATTAS, in seinem Heimathangar gestanden. Zuvor war ATTAS
fast 27 Jahre lang in DLR-Diensten zu zahlreichen Flugversuchen
gestartet.
Mittlerweile stand der Forschungsflieger fast ein Jahr am
Boden, denn es gab nicht mehr ausreichend Ersatzteile, um die
betagte VFW-614 im Routinebetrieb zu halten. Die Schwester-
flugzeuge aus dem Hause der Vereinigten Flugtechnischen
Werke waren schon längst in Rente gegangen. Im Sommer
2012 war dieser Moment dann auch für ATTAS gekommen.
Auf einer Festveranstaltung verabschiedete sich der Flugver-
suchsträger offiziell mit einem letzten Blinken vom aktiven
Flugbetrieb in den Ruhestand. Zahlreiche Gäste, darunter der
ATTAS-Testpilot der ersten Stunde, Dietmar Sengespeik, sprachen
an diesem Tag über ihre Erinnerungen. Der Rückblende folgte
der Blick nach vorn: ATTAS würde bald im Hangar der Flugwerft
Schleißheim des Deutschen Museums für ein großes Publikum
zu bestaunen sein.
Zuvor mussten die DLR-Ingenieure allerdings ein passendes
Ersatztriebwerk finden, damit der Forschungsflieger auf dem
Luftweg seine letzte Reise antreten konnte. Eine LKW-Fahrt
hätte einen erheblichen Mehraufwand bedeutet. Denn die weit
ausladenden Tragflächen sind für einen Transport im Straßen­
verkehr denkbar ungeeignet. Sie hätten zuvor abgetrennt und
später wieder montiert werden müssen.
Nach längerer Recherche hatten die DLR-Ingenieure ein
geeignetes Triebwerk gefunden und ausreichend geprüft, um
sicherzustellen, dass der Überführungsflug risikolos durchführ-
bar ist. Dank des Gutachtens eines Triebwerksspezialisten stand
ATTAS am 7. Dezember 2012 mit dem Segen des Luftfahrt-
Bundesamtes bereit für den letzten Flug.
Schon früh im Dunkeln kamen die ersten Kollegen, um
die letzten Startvorbereitungen zu treffen. Den Vormittag über
lief ein Check nach dem anderen. ATTAS stand ein letztes Mal
neben ATRA, einem Airbus A320, der als großer DLR-Flugver-
suchsträger weiter im Dienste der Luftfahrtforschung fliegen
wird.
Während die Braunschweiger Mannschaft des DLR-Flug-
betriebs ATTAS für den letzten Start vorbereitete, kämpften Mit-
arbeiter des Deutschen Museums gemeinsam mit der örtlichen
Feuerwehr gegen die winterlichen Witterungsbedingungen auf
dem Flugplatz Schleißheim. In der Nacht hatte es etwas geschneit.
„Untergrund leicht vereist mit dünner Schneeschicht“, war die
herausfordernde Botschaft aus dem Münchener Norden.
Stück für Stück legten die Einsatzkräfte die Landebahn
frei und tauten das verbliebene Eis auf. Der an die Flugwerft
Schleißheim angrenzende Flugplatz verfügt nur über eine ver-
kürzte Landebahn von 800 Meter Länge, die regulär von kleinen
Sportmaschinen genutzt wird. Die Lande- ebenso wie die Sicht-
bedingungen mussten für den ATTAS-Überführungsflug einwand-
frei sein.
Als sich die Tore des DLR-Hangars in Braunschweig öff­
neten und die beiden Piloten Hans-Jürgen Berns und Stefan
Seydel im Cockpit ihre Plätze einnahmen, wurde es spannend.
Ein Schlepper zog ATTAS auf das Vorfeld. Dort begann die Zeit
des Wartens, denn die Vorbereitungen in Schleißheim dauerten
immer noch an. Neben der Präparation der Landebahn musste
aus Sicherheitsgründen auch ein Zaun am Ende der Bahn de-
montiert werden.
Auf dem Dach des Hangars in Braunschweig hatte sich
eine kleine Schar alter Bekannter in eisiger Kälte zum Geleit
bereitgestellt. Fast eine Stunde harrten sie aus, immer den start-
bereit stehenden Forschungsflieger im Blick. Zuletzt mussten die
beiden ATTAS-Piloten noch die Landung des DLR-Segelfliegers
DG300 auf dem Braunschweiger Flughafen abwarten. Als die
DG300 elegant hereinsegelte und langsam zum Stehen kam,
war das wie ein letzter Gruß der heimatlichen Flugabteilung.
Gegen 12:00 Uhr dieses 7. Dezember kam dann die erlösende
Freigabe: „ATTAS auf Go!“
Hans-Jürgen Berns und Stefan Seydel ließen die Triebwerke
an. Eine kurze Rußfahne, dann liefen sich die Maschinen frei. Nach
einem Jahr Stillstand rollte ATTAS vorwärts zur Runway, dem winter-
lichen Mittagshimmel entgegen. Noch immer standen Schaulustige
auf dem Hangar. Wie zu seinen besten Zeiten als Forschungsflug-
zeug erhob sich ATTAS in die Braunschweiger Luft.
Seit 1985 war ATTAS als großer Flugversuchsträger im
Dienst, erst unter der Flagge der Deutschen Forschungs- und
Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DFVLR), dann nach
dem Namenswechsel im DLR. In diesen mehr als zwei Jahrzehn-
ten hat ATTAS erheblich zum Renommee der DLR-Luftfahrt­
forschung beigetragen.
Mit dem fliegenden Simulator untersuchten die Wissen-
schaftler unter anderem die Flugeigenschaften noch nicht ge-
bauter Prototypen. Ein Höhepunkt war 2002 die virtuelle Erpro-
bung der Fairchild/Dornier DO 728 im Rahmen der Zulassung
der Flugsteuerung des damals neu entwickelten Flugzeugs.
ATTAS war als fliegender Verwandlungskünstler auch als über­
dimensionierter Nurflügler am Himmel unterwegs: Die Forscher
erprobten mit ihm das neue Konzept eines Großraumpassagier-
jets, das in einer flachen Rochenform mit einer Spannweite von
100 Metern zukünftig bis zu 750 Passagiere aufnehmen soll. Zu-
dem war ATTAS der einzige Flugversuchsträger, der Flüge durch
Wirbelschleppen und Böenfelder simulierte. Ebenso konnten die
Forscher das Verhalten eines defekten Flugzeugs virtuell in der
Luft erproben.
All das ermöglichte die frei programmierbare Fly-by-Wire-
Steuerung des Forschungsfliegers. Dabei handelt es sich um ein
elektro-hydraulisches System, das ATTAS im Zuge des Umbaus
zum Versuchsträger neben der bereits vorhandenen mechani-
schen Steuerung erhalten hatte. Die Wissenschaftler nutzten die
In-Flight-Simulation intensiv, um neue Regelungstechniken zu
erproben. Regelmäßig wurden Flugversuchsingenieur-Schüler
der britischen Testpilotenschule Empire Test Pilots’ School (ETPS)
auf ATTAS ausgebildet. Studenten nutzten ATTAS immer wieder
als fliegenden Hörsaal für Flugerprobungsexperimente.
Außerdem erprobten die Forscher mit ATTAS lärmarme
Anflüge und automatisierte Anflugverfahren. Über einen Daten-
link konnte der Forschungsflieger von den Wissenschaftlern
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Bereit für den letzten Start: ATTAS auf dem Forschungsflughafen Braunschweig
Nach einem extrem kurzen Anflug auf den Flugplatz Schleißheim bei München kam ATTAS schon nach 600 Metern zum Stehen
Die ATTAS-Kabine: Um Gewicht zu sparen, wurden für
den Überführungsflug die Rechner ausgebaut
Bild: Deutsches Museum
Am Ende einer langen
erfolgreichen Karriere
Anfang 2012 war bei einem Routinecheck an einem Schaufel-
blatt der rechten Triebwerksturbine ein Schaden festgestellt
worden. Der Flugversuchsträger, mittlerweile über 30 Jahre alt,
war dank exzellenter Wartung schon seit Langem das einzige
noch fliegende Exemplar der VFW-614-Baureihe. Ein Riss über
der Toleranzgrenze bedeutete das Ende der langen erfolgreichen
Karriere. Für den Überführungsflug ins Deutsche Museum
München konnte schließlich ein anderes Triebwerk gefunden
werden, dem die Unbedenklichkeit bescheinigt wurde. So
durfte ATTAS im Dezember 2012 mit Sondergenehmigung
des Luftfahrtbundesamtes ein letztes Mal fliegen, wenn auch
wegen kleinerer Vorschädigungen des Ersatztriebwerks unter
besonderen Sicherheitsvorkehrungen: minimale Besatzung,
minimales Startgewicht, reduzierte Startleistung und keine
Extra-Überflüge. Eine letzte Bewährungsprobe, die ATTAS
tadellos bestand.
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