Mehr Operationelle FlugSicherheit durch Erhöhung des Situationsbewusstseins
Situationsbewusstsein: ein häufig verwendeter Begriff in Zusammenhang mit Flugsicherheit. Aber was ist damit eigentlich genau gemeint? Wie kann Situationsbewusstsein gemessen werden? Und was kann im Sinne der mensch-zentrierten Gestaltung des Arbeitsplatzes Cockpit getan werden, um Situationsbewusstsein und damit die Sicherheit zu erhöhen? Im Rahmen des DLR-internen Projekts MOSES wurde an der Beantwortung dieser Fragen gearbeitet.
Hierbei kam die Human Factors-Expertise der drei DLR-Fachabteilungen Systemergonomie (FL, Braunschweig), Luft- und Raumfahrtphysiologie (ME KP, Köln Porz) und Luft- und Raumfahrtpsychologie (ME HH, Hamburg) in einem interdisziplinären Team aus Ingenieuren, Psychologen und Medizinern zum Tragen.
Überblick
Im Mittelpunkt stand die Erfassung des Situationsbewusstseins von Piloten. Dazu wurde ein messtechnischer Ansatz zur Erfassung des Phänomens in Versuchen mit über achtzig Piloten im Simulatorcockpit des DLR-Instituts für Flugführung erprobt. Gleichzeitig wurden mögliche Verbesserungen des Situationsbewusstseins durch die folgenden, neuartigen Assistenzsysteme untersucht, die erstmals unter experimenteller Kontrolle eingesetzt wurden:
Operationelle Definition des Begriffs Situationsbewusstsein
Aufbereitet wurde die Fachliteratur, wobei die Definition von Endsley (1988) zum Konstrukt Situation Awareness (SA) von zentraler Bedeutung waren. Die Definition orientiert sich am Ansatz der Informationsverarbeitung und unterteilt drei Stufen:
Endsleys Modell grenzt Situationsbewusstsein von Entscheidungsverhalten (Decision Making) und von der Ausführung einer Handlung (Performance) ab.
Multimodale Messbatterie zur Erfassung von Situationsbewusstsein
Die multimodale Messbatterie, die für das Projekt MOSES zusammengestellt wurde, ist eng verzahnt mit der vorangestellten operationellen Definition nach Endsley. In einem weitgehend automatisierten Umfeld sind die Eingaben des Menschen in das System auf ein Minimum reduziert. Es ist daher notwendig, das Verhalten des Menschen bei der Informationsaufnahme, d.h. sein Blickbewegungsverhalten sowie physiologische Zustandsparameter zu erfassen. Ferner sollen psychologische Daten zur Selbst- und Fremdeinschätzung herangezogen werden, um sie in Beziehung zu den spezifischen Bedingungen des Szenarios, zu den Systemanforderungen und zum Systemzustand zu setzen.
Durch die Methodenkompetenz der drei Fachabteilungen Systemergonomie, Luft- und Raumfahrtphysiologie und Luft- und Raumfahrtpsychologie konnte eine entsprechende Messbatterie zusammengestellt werden, die unter anderem eine gleichzeitige Messung von Blickbewegungs- und EEG-Daten ermöglicht.
Die Bestandteile der Messbatterie im Einzelnen:
Je nach Aufgabenstellung ist die multimodale Messbatterie modifizierbar für künftige Versuche.
Gestaltung von Szenarien, die einen Mangel an Situationsbewusstsein beobachtbar machen
Darstellung der Flugsegemente, die für die MOSES-Versuche mit TARMAC-AS definiert und untersucht wurden. high-res JPEG.
Bei den im Rahmen von MOSES eingesetzten Verfahren zur Messung von SA wurde auf die Technik der direkten Informationsabfrage (SAGAT, SPAM) verzichtet, weil befürchtet wurde, dass die Anwendung dieser Technik den operationellen Ablauf der Simulation stören könnte und die Aussagekraft der Ergebnisse dadurch beeinträchtigt würde. Stattdessen wurde ein Ansatz der Messung von SA verfolgt, der in der Literatur als ‚implizite Messung’ (Durso, 1999) bezeichnet wird. Dieser Ansatz setzt bei der Gestaltung der Simulationsszenarien an.
Grundsätzlich wird dabei angestrebt, Ereignisse in der Simulation auftreten zu lassen, die vom Piloten eine eindeutige und hoch geübte Verhaltensreaktion erfordern. Erfolgt diese nicht oder verzögert, kann dies implizit als Hinweis auf einen Mangel an SA gewertet werden. Befindet sich z.B. ein Hindernis auf der Lande- bzw. Rollbahn, und der Pilot bricht den Landevorgang zur Vermeidung einer Kollision nicht ab, bzw. bremst nicht, kann dieses Verhalten als Indikator mangelnden Situationsbewusstseins gewertet werden, d.h. das kritische Ereignis wurde vom Piloten nicht oder zu spät erkannt.
Eine zweite Methode, über die Gestaltung der Simulationsszenarien Aufschluss über den Grad an SA zu gewinnen, kann über die systematische Variation von SA-limitierenden Umgebungsbedingungen erfolgen. Hierzu zählen unterschiedliche Wind-, bzw. Sichtbedingungen bis zu CAT II, verschiedene Ausprägungen von Verkehr, kooperative / unkooperative Hindernisse beim Rollen (Flugzeuge / übrige Fahrzeuge wie z.B. Tankfahrzeuge), wodurch die Extraktion flugführungsrelevanter Information zur Aufrechterhaltung von SA erschwert wird. Ein Beitrag zur Gestaltung von Szenarien findet sich in [14].
Versuchsdurchführung
Vier Kampagnen mit über achtzig Versuchspersonen fanden statt, darunter sowohl Pilotenschüler als auch erfahrene Piloten. Die Versuche fanden im GECO (Generisches Experimental Cockpit des DLR-Instituts für Flugführung) statt, dem modular aufgebauten Festsitz-Cockpitsimulator zur Bewertung und Demonstration von Flugführungsfunktionen. Zur Erhöhung der Realitätsnähe besitzt der GECO ist eine kollimierte Außensicht.
Eine synchronisierte Aufzeichnung der Simulator-, Blickbewegungs- und physiologischen Daten ist im Rahmen der Versuche gewährleistet.
Datenauswertung und Analyse
Im Rahmen des Projekts MOSES wurde eine automatische Auswertung der Blickbewegung entwickelt, die Verweildauern und Zuwendungshäufigkeiten auf areas of interest je Segment errechnet (siehe Abbildung unter „Gestaltung von Szenarien“). Damit wird eine weitaus effektivere Methode bereitgestellt als das häufig verwendete, „manuelle“ Auszählen von Blickzielen. Die Blickbewegungsdaten können anschließend in Zusammenhang mit Simulator- und physiologischen Daten gesetzt werden.
Gestaltungs- und Umsetzungsvorschläge
Aus den Untersuchungsergebnissen sollen Hilfen bei der Auswahl von Display- und Eingabealternativen und Cockpitprozeduren abgeleitet werden. Ergonomisch sinnvolle Varianten von Assistenzsystemen werden definiert, um menschgerechte Automatisierung zu realisieren.
DLR-Institut für Flugführung DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin
Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung Luftfahrt-Bundesamt Vereinigung Cockpit e.V.
Literatur
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