Das maritime Verkehrssystem ist ein wichtiger Grundstein für die wirtschaftliche Entwicklung, die Wettbewerbsfähigkeit sowie die Prosperität von Deutschland und Europa. Mit einem Anstieg von 4% setzte der weltweite, seegebundene Handel sein Wachstum in 2011 fort und erreichte ein totales Gütertransportvolumen von 8.7 Milliarden Tonnen. Die Nutzlast der weltweiten Flotte erreichte im Januar 2012 mehr als 1.5 Milliarden Schwerguttonnen, was einem Anstieg von über 37% in gerade 4 Jahren entspricht. Im Jahr 2011 ausgelieferte Containerschiffe sind im Durchschnitt 34% größer als 2010 ausgelieferte Schiffe. Zukünftig muss daher die effiziente und sichere Realisierung der gesamten Transportprozesse auch bei steigenden Verkehrsdichten und mit schwerer zu navigierenden Schiffen abgesichert werden. Die International Maritime Organisation (IMO) initiierte mit „e-Navigation“ ein weltweites Entwicklungsprogramm mit dem Ziel einer „Sicheren und effizienten Seefahrt auf sauberen Weltmeeren“. E-Navigation steht für Gewinnung, Implementierung, Austausch, Darstellung und Analyse von seefahrtbezogenen Informationen durch landseitig und bordseitig eingesetzte elektronische Mittel soll gegenwärtige und zukünftige Nutzeranforderungen erfüllen, indem eine Harmonisierung und Verbesserung von maritimen Systemen, Komponenten und Diensten erfolgt (siehe Abb. 1).
Unter Beachtung der „e-Navigation“-Schlüsselelemente wurden die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten des Projekts “MVT-eNav-I” auf das maritime Positions-, Navigations- und Zeitsystem (PNT) sowie auf das System zur Verkehrslageerfassung und -evaluierung (TSA) fokussiert. Beide Systeme interagieren miteinander und sind Lieferant von sicherheitskritischen nautischen Daten, die für die Schiffsführung und das Verkehrsmanagement benötigt werden. Beiden Systemen ist zudem gemein, dass sie aus schiffseitigen Komponenten und landseitigen Diensten bestehen, die u.a. satellitengestützte Kommunikations-, Navigations- und Informationssysteme verwenden (siehe Abb. 2).
Eine technische Herausforderung für beide Systeme ist die schrittweise Einführung und Implementierung von Daten- und Systemintegrität. In diesem Kontext wird Integrität als klassisches Sicherheitsziel betrachtet, das entweder die Korrektheit und Vollständigkeit von Datenprodukten oder die korrekte und vollständige Realisierung von Systemaufgaben bezüglich ihrer technischen Spezifikationen beschreibt. Der Begriff „Integrität“ wird assoziiert mit dem Bedürfnis des Nutzers an zuverlässigen Echtzeitinformationen, die die augenblickliche Verwendbarkeit von nautischen Komponenten und Diensten oder bereitgestellten Navigationsdaten beschreiben. Die Integrität von Daten ist gegeben, wenn die Daten im erwarteten
Zeitintervall bereitgestellt werden, im spezifizierten Format geliefert werden und wenn die an sie gestellten Genauigkeitsanforderungen eingehalten werden konnten. Die Integrität eines technischen Systems wird erreicht, wenn das System alle spezifizierten Aufgaben zeitgerecht, vollständig und richtig umsetzen konnte. Für die Bereitstellung von Integritätsinformationen muss das maritime Verkehrssystem mit geeigneten Integritätsüberwachungsfunktionalitäten ausgestattet werden, die die Bewertung der Daten- und Systemintegrität in Echtzeit ermöglichen. Folglich wird die Entwicklung von sensorspezifischen Fehlermodellen und aufgabenbezogenen Integritätsüberwachungsfunktionen für das maritime PNT- und TSA-System sowie ihre experimentelle Validierung als themenübergreifendes Projektziel betrachtet. Daraus ergeben sich folgende Teilziele:
Maritimes PNT-System
In Abb. 3 ist die generische Architektur des maritimen PNT-Systems dargestellt, die in der Definitionsphase in Zusammenarbeit mit internationalen Gremien entwickelt wurde. Mit dem „Integrierten PNT System“ wird die erforderliche Struktur aus satellitengestützten sowie bord- und landseitigen Komponenten spezifiziert, deren integrierte Verwendung die genaue und zuverlässige Bereitstellung der Positions-, Navigations- und Zeitdaten von Schiffen sowie zugeordneter Integritätsdaten (PNT-System und -Daten) an Anwendungen für alle Phasen der Schiffsnavigation absichert. Landseitige Ergänzungsdienste werden gebraucht, um höhere Positionsgenauigkeiten in Gebieten mit hoher Verkehrsdichte wie Küsten und Häfen zu erreichen und um die Integritätsbewertung genutzter Globaler Navigationssatellitensysteme (GNSS) und bereitgestellter Ergänzungsdaten für DGNSS (differentielles GNSS) zu unterstützen. Im Rahmen des MVT-Projekts wird dafür das experimentelle MGBAS (Maritime Ground Based Augmentation Services) im Forschungshafen Rostock erweitert, um die Bereitstellung von multiGNSS- und multifrequenzbasierten DGNSS-Diensten mit autonomer Integritätsüberwachung in der Positions- und Signaldomäne zu ermöglichen. Zusätzliche Integritätsmonitoringfunktionalitäten sind vorgesehen, um einerseits die Entwicklung von fundierten Fehlermodellen für das übergeordnete Integritätskonzept zu ermöglichen und um andererseits Lösungsansätze für die Bereitstellung von PNT-relevanten maritimen Sicherheitsinformationen (MSI) untersuchen zu können. An Bord eines Schiffes müssen während der Fahrt von Kaikante zu Kaikante verschiedenste nautische Aufgaben mit unterschiedlichen Genauigkeits- und Integritätsanforderungen an die PNT-Datenbereitstellung gelöst werden, obwohl dabei die Verfügbarkeit von nutzbaren Diensten, Signalen und Komponenten sich ändert. Unsere Vision besteht in der Bereitstellung einer robusten und nutzerfreundlichen PNT-Unit, die die besten PNT-Daten bereitstellt, indem sie eine Eigenüberwachung der PNT-relevanten Datenquellen und eine adaptive Auswahl von anwendbaren Positionsbestimmungsverfahren vornimmt. Am Ende des Projektes soll eine erste PNT-Unit demonstriert werden, die in der Lage ist, Kurzzeitstörungen und Ausfälle im GNSS-System zu erkennen und zu überbrücken.
Verkehrslageerfassung und -evaluierung
Die Erfassung der Verkehrslage und die Bewertung des aktuellen Unfallrisikos ist eine sicherheitskritische Aufgabe, die in allen Phasen der Schiffsnavigation (z.B. Fahrt auf hoher See, Anfahrung eines Hafens, Dockingmanöver usw.) umgesetzt werden muss. Anforderungen an die Verkehrslageerfassung sind in Gebieten mit erhöhten Verkehrsdichten und eingeschränktem Manöverraum anspruchsvoller. In diesen Fällen kann die Überwachung der Verkehrslage und ihrer Prognose durch Verkehrsleitzentralen (VTS) unterstützt werden. Eine umfassende und zuverlässige Beschreibung der Verkehrssituation ist für ein abgestimmtes Management des Verkehrs und für ein kooperatives Aufheben von Gefahrenmomenten erforderlich. Eine effektive und fehlerfreie Entscheidungsfindung in diesem Kontext erfordert, dass sowohl die Verkehrsteilnehmer als auch Verkehrsmanager mit identischen Verkehrslagebildern versorgt werden. Verkehrslagebilder können aus Radardaten und den PNT-Daten der Schiffe gleichermaßen abgeleitet werden. Der Zugriff auf die PNT-Daten anderer Verkehrsteilnehmer wird durch das Automatische Informationssystem (AIS) ermöglicht.
Die Verfügbarkeit von unabhängigen und sich ergänzenden Datenquellen erzeugt die notwendige Redundanz, auf deren Grundlage mittels geeigneter Datenfusionsverfahren die Vollständigkeit wie auch der Wahrheitsgehalt von Verkehrslagebildern bewertet werden können. Die Bereitstellung und experimentelle Evaluierung solcher Verfahren unter Echtzeitbedingungen, stellen ein weiteres Projektziel dar. Zugeordnete Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten fokussieren sich auf die Bereitstellung geeigneter Algorithmen (siehe Abb. 4), die das Fehlermanagement von der Detektion einzelner Fehler bis zur Abschätzung verbleibender Fehler in den bereitgestellten Datenprodukten realisieren, die zur Beschreibung der Verkehrssituation und seiner Veränderung dienen.
Förderung: internes Projekt
Laufzeit: 2010-2013
Videokanal des Instituts