Auf dem Kipptisch werden die Teilnehmenden in verschiedenen Winkeln mit dem Kopf nach unten oder nach oben gekippt. (Bild: Kira Wazinski)
14. Februar 2023
Wie orientiert sich der Mensch unter verschiedenen Gravitationsreizen und gibt es Unterschiede zwischen Frauen und Männern? Diesen Fragen ist ein Team der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg gemeinsam mit dem DLR in der PUG 4-Studie auf den Grund gegangen. Für die Experimente wurde u.a. die DLR-Kurzarm-Human-Zentrifuge genutzt.
Die Teilnehmenden, welche durch eine Augenbinde nichts sehen konnten, mussten während der Fahrt auf der Zentrifuge oder während sie auf einem Kipptisch lagen angeben, wo „oben“ und „unten“ ist. Ein Kipptisch ist eine flexible Liege, die in unterschiedliche Winkel gekippt werden kann. Die Teilnehmenden wurden für die Studie sowohl mit dem Kopf als auch mit den Füßen nach unten, Richtung Boden, gekippt. Die Liege des Kipptisches wurde dabei auf Winkel von 0° bis 45° festgestellt, ohne dass die Teilnehmenden wussten, welcher Winkel in ihrem Fall eingestellt wurde. Mit einem beweglichen Joystick zeigte die Testperson an, wo ihrer Wahrnehmung nach „unten“ ist. Ein anderer Teil des Experimentes fand auf der DLR-Kurzarm-Human-Zentrifuge statt, die mit verschiedenen Beschleunigungsstufen von 0 g bis 1 g rotierte, während die Testpersonen mal mit dem Kopf nach innen und mal mit dem Kopf nach außen auf der Zentrifuge lagen. Die Rotation beeinflusst ebenfalls unsere Wahrnehmung von „oben“ und „unten“: Je nachdem, wie schnell die Zentrifuge fährt und in welcher Richtung man auf der Zentrifuge liegt, hat man mehr oder weniger das Gefühl, auf den Beinen zu stehen oder auf dem Kopf. Auch bei den Fahrten auf der Zentrifuge mussten die Teilnehmenden die Wahrnehmung ihrer Körperlage im Raum durch Positionierung des Joysticks angeben.
Vorbereitung auf die Studie: Orientierungsanzeige per Joystick (Bild: Kira Wazinski)
Mit dieser Studie möchte das Wissenschaftlerteam bei Männern und Frauen untersuchen, in welcher Form und in welcher Intensität sich die Wahrnehmung bzw. die Orientierung im Raum durch verschiedene Gravitationsreize verändert. Bisherige Ergebnisse weisen darauf hin, dass es Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen Frauen und Männern geben könnte. Professor Rainer Herpers von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Informatik, erläutert den Forschungsansatz: „Das durch die Experimente gesammelte Wissen soll uns helfen vorherzusagen, wie sich die Wahrnehmung von oben (perceptual upright, PU – die Wahrnehmung von aufrecht) sowie die Wahrnehmung von vertikal (perceptual vertical) bei Männern und Frauen in Situationen verändert, in denen die Gravitation keine zuverlässige Quelle für die Orientierungswahrnehmung darstellt. Das ist etwa auf dem Mond der Fall, auf dem die Gravitation eine geringere Stärke hat, als auf der Erde (circa 0,16 g). Obwohl die Forschung auf diesem Gebiet seit Jahren aktiv ist, ist die menschliche Orientierungswahrnehmung noch nicht vollkommen entschlüsselt und vorhersagbar, insbesondere in besonderen Umgebungen wie unter Wasser, auf dem Mond oder in Schwerelosigkeit. Viele der Fehler, die bei der Arbeit im Weltall geschehen, sind Folgen perzeptioneller Fehlinterpretationen, wovon einige mit den hier zu untersuchenden Fragestellungen zusammenhängen. Das Ziel unseres Projekts ist es also, die Wahrnehmung vorhersagbar zu machen und damit in der Lage zu sein, weiblichen und männlichen Personen, wie etwa Piloten, Astronauten, oder Tauchern, bei der Wahrnehmung ihrer Umgebung optimal zu unterstützen, jeweils in Abhängigkeit der besonderen Gegebenheiten ihrer Umwelt und ihres Geschlechts. Die Ergebnisse unseres Forschungsprojekts sollen uns helfen, ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, wie Menschen (Männer und Frauen) die Entscheidung fällen, wo „oben“ und wo „vertikal“ ist."
Erste Ergebnisse zu der Studie werden im Herbst 2023 erwartet. An der Studie ist ein Team der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (Fachbereich Informatik, Professor Rainer Herpers, Sandra Felsner und Dr. Nils Bury), der York University (Fachbereiche Psychologie, Informatik, Gesundheitswissenschaften; Professor Laurence Harris, Professor Michael Jenkin und Professor Robert Allison) sowie das DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin (M.Sc. Timo Frett, Alexandra Noppe, Prof. Dr. Jörn Rittweger, Dr. Laura de Boni) beteiligt.
Das Team des DLR und der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg mit Probandin an der DLR-Kurzarm-Zentrifuge (Bild: Kira Wazinski)
Diese Zentrifugenstudie wurde von ESA (Grant No. ESA-CORA-GBF-RHerpers-ROD2 2021-09-09) sowie York University, Toronto, Kanada (VISTA Programm) unterstützt. Weitere Informationen: https://www.h-brs.de/de/inf/wo-ist-oben-und-wo-unten