Ein gewaltiger Detektor im CERN. In der Anlage werden Teilchen auf annähernd Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und dann zur Kollision gebracht, was mit diesen Detektoren beobachtet wird. Die „Zusammenstöße“ geben Aufschluss über weitere Partikel wie etwa das berühmte Higgs-Teilchen. Bild: Maximilien Brice/CERN
 

Tagebuch einer ungewöhnlichen Reise in den Mikrokosmos

Ein gewaltiger Detektor im CERN. In der Anlage werden Teilchen auf annähernd Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und dann zur Kollision gebracht, was mit diesen Detektoren beobachtet wird. Die „Zusammenstöße“ geben Aufschluss über weitere Partikel wie etwa das berühmte Higgs-Teilchen. Bild: Maximilien Brice/CERN
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Als sich Lilli mit 15 Jahren per E-Mail beim DLR für ein Praktikum bewarb, bezeichnete sie sich selbst als „speziellen Fall“. Und das ist sie auch – in vielerlei Hinsicht. Trotz ihrer Behinderung ist sie bewundernswert ehrgeizig und zielstrebig. Astrophysik will sie studieren. Der Plan entstand, als sie im Fernsehen einen Bericht über Stephen Hawking sah und danach viel über ihn und seine Arbeit las. Mit ihrem Idol verbindet sie – außer der Leidenschaft für die Enträtselung der Geheimnisse des Universums – so einiges: Wie der berühmte Wissenschaftler es war, ist auch Lilli auf einen Rollstuhl und auf einen Sprechcomputer angewiesen. Texte tippt Lilli mit ihren Fußzehen in den Tablet-PC – und auch diesen Artikel hat sie so geschrieben. Er handelt von einem weiteren Praktikum, das wir ihr vermitteln konnten: und zwar im legendären CERN. Und so trat Lilli ein Jahr nach ihrem Aufenthalt im Berliner DLR-Institut für Planetenforschung Anfang 2018 ihre Reise in die Welt der kleinsten Teilchen an – gewissermaßen vom großen Kosmos in den Mikrokosmos. Hier ihr Bericht in Form eines ausführlichen Tagebuchs.

Von Lilli Zeifert

Tag 1 – Die Ankunft: Der Globe, das Restaurant 1 und eine schlaflose Nacht

Der Globe – eines der „Wahrzeichen“ des CERN. Bild: Wikipedia

Nach zehn Stunden Fahrt sah ich endlich den Globe. Wir waren am CERN angekommen! Mein Adrenalin stieg schlagartig. Nachdem wir – meine Mutter und ich – die Pforte passiert und uns in einem behindertengerechten Zimmer eingerichtet hatten, trafen wir Susanne Dührkoop und Dr. Claudia Behnke, die mich in den nächsten Tagen begleiten würden. Im legendären Restaurant 1 sprachen wir über das Programm für mein Praktikum. Die Internationalität des CERN wurde hier auf einen Schlag sichtbar: An einem Tisch sprach man Englisch, am anderen Französisch und am nächsten Italienisch. Ich konnte noch gar nicht glauben, dass ich wirklich im CERN war. Das war zu diesem Zeitpunkt wirklich noch so unwirklich für mich. Nach dem Essen – das übrigens wirklich lecker war – unterhielten wir uns über all die spannenden Themen aus der Physik: über Dunkle Materie, die Heisenberg’sche Unschärferelation und Einsteins berühmte Relativitätstheorie. Dann ging es um die Pläne für die nächsten Tage und ich stellte fest: Ich war völlig verplant. ;-D

Susanne und Claudia zeigten mir dann noch das Gebäude. Wir sahen sogar die Büros, wo das World Wide Web (WWW) erfunden wurde. Warte, was?! Ja, das Internet wurde am CERN erfunden! Vor den beiden Räumen hängt die World Wide Web-Plakette – ein wirklich historischer Ort. Nun ging es aber ab ins Bett. Es war schon nach 22 Uhr. Ich war so aufgeregt, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte.

Plakette an dem Büroraum, in dem das World Wide Web „erfunden“ wurde. Bild Zeifert

Tag 2 – Ein seltsamer Aufzug, Fragen zur String-Theorie und eine zerbrochene Gabel

Pünktlich um 8Uhr45 war Treffpunkt bei SM18. Das ist ein Standort des CERN außerhalb des Hauptgeländes. Also wieder los mit dem Auto. Wir hatten bloß eine normale Landkarte, auf der man uns am Vortag den Weg eingezeichnet hatte. Ich schnappte mir die Karte und sagte, wo es lang ging … Zumindest dachte ich das! Anstatt bei SM18 landeten wir nämlich in der nächsten Stadt. Wir irrten eine Viertelstunde umher, bis wir endlich Susanne und Claudia trafen und ins Gebäude gingen. Dort gibt es eine Ausstellung, die wir ansahen. Dann ging es mit einem Fahrstuhl in die Tiefe. Das sollten wir jedenfalls glauben! Denn Susanne erzählte uns, dass wir jetzt in den Tunnel des Teilchenbeschleunigers LHC fahren würden – hundert Meter unter die Erdoberfläche! Mir war jedoch bewusst, dass man den Tunnel nicht mal einfach so betreten durfte – schon gar nicht ohne Schutzkleidung. Und außerdem war ich in meinem Leben schon in vielen Fahrstühlen – und bei dem hier stimmte definitiv etwas nicht! Es handelte sich um einen „Fake-Aufzug“: Auf der einen Seite stieg man ein, auf der anderen nach einiger Zeit wieder aus – allerdings immer noch auf derselben Etage. Als sich die rückwärtigen Türen öffneten, rollte ich in einen „Show-Tunnel“, der aber absolut identisch wie der echte aussieht – nur natürlich außer Betrieb. Das Ganze ist ein kleiner „Gag“ für Besucher, denen der Trick an der Sache natürlich hinterher erklärt wird.

Okay, ihr habt mich erwischt: Hier bin ich nicht im echten Beschleunigertunnel, sondern vor einem Plakat ;-) Bild: Zeifert

Was es mit dem Tunnel und der riesigen Anlage zur Teilchenbeschleunigung auf sich hat – hier kurz zusammengefasst: Die Teilchen werden durch elektromagnetische Kraft beschleunigt. Jeder weiß ja, dass sich unterschiedliche Ladungen anziehen und gleiche Ladungen abstoßen. Das ist eigentlich auch das Grundprinzip der Teilchenbeschleunigung. Das Feld wird so eingestellt, dass ein Teilchen angezogen wird, und dann wechselt das Feld, sodass das Teilchen abgestoßen wird. Dies erzeugt die extrem hohe Beschleunigung. Kinderleicht oder?! Natürlich nicht. Denn es ist eine extrem komplexe Maschine. Es gibt noch die Dipole und die Quatropole. Wie die Begriffe schon andeuten, haben Dipole zwei magnetische Pole, Quatropole dementsprechend vier Pole. Dipole haben die Funktion, die Teilchenbündel in die richtige Richtung zu weisen bzw. ihre Richtung zu korrigieren. Quatropole machen das auch, aber sie komprimieren zugleich die Breite des Teilchenbündels, was „bunshen“ genannt wird. „Teilchenbündel“ sage ich deshalb, weil es sich bei den Teilchen wie mit Lichtstrahlen verhält: Auch da schafft es ja nicht nur ein einziger Strahl durch ein Fenster, sondern mehrere auf einmal – eben ein Strahlenbündel. So ähnlich macht man das mit den Teilchen.

In dieser Halle gibt es auch noch ein anderes spannendes Projekt. Es heißt „OSQAR“ und sucht nach den sogenannten „Axionen“. Diese Teilchen, deren Existenz bisher nur vermutet wird, könnten Bestandteile der Dunklen Materie sein. Um das herauszufinden, hat man zwei Dipole hintereinander geschaltet und im Inneren ein Vakuum erzeugt. Ein Laserstrahl wird durch dieses Vakuum geschossen. Falls dabei Axionen entstehen, müssten sie sich am Ende des Aufbaus wieder in Photonen – also in Licht – umwandeln, wenn sie dort eine Wand durchfliegen. Sollte man also Licht hinter der Wand sehen, wäre das ein Hinweis auf die Existenz der Axionen.

Nun ging es zum Hauptgelände, wo ich an einem Vortrag über einen erweiterten Teilchenbeschleuniger namens CLIC teilnehmen durfte. Der Vortragssaal ist übrigens geschichtsträchtig, denn dort wurde die Entdeckung des berühmten Higgs-Teilchens bekanntgegeben. Natürlich kannte ich nicht alle Fachbegriffe dieses englischsprachigen Vortrags, verstand aber insgesamt, worum es ging. In ein paar Jahren würde man gerne einen weiteren Teilchenbeschleuniger an den LHC anbauen, nämlich einen Linearbeschleuniger. CLIC hätte im Vergleich zum heutigen LHC eine noch größere Leistungsfähigkeit und viele andere Vorteile.

Teilchenkollision der anderen Art: eine Plastikgabel, beim Kontakt mit dem Mittagessen zerbrochen ;-) Bild: Zeifert

Dann war Mittagspause. Meine Plastikgabel zerbrach doch tatsächlich an der französischen Ente, die es zum Essen gab. Na ja – auch eine Art von Teilchen-Kollision ... Anschließend ging’s weiter ins Data Center, wo alle Daten am CERN gespeichert werden, egal ob es Ergebnisse von den Kollisionen oder Computerdaten einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind. Und schon zum nächsten Programmpunkt: Francois Butin erzählte mir etwas über Antimaterie – mit sensationellem Blick genau in jene Halle, in der im CERN Antimaterie erzeugt wird! Wie gefährlich ist Antimaterie wirklich? Solche und viele andere Fragen beantwortete er mir. Genauso wie ein anderer Experte, nämlich Prof. Dr. Michael Kobel, mit dem ich mich per Videoanruf unterhielt. Ihn habe ich unter anderem gefragt, was er von der String-Theorie hält. Er findet die Vorstellung sehr interessant, wenn es eines Tages irgendeinen Nachweis dafür geben sollte. Zur Erklärung: Die String-Theorie ist eine wirklich sehr umstrittene Theorie. Ihr zufolge sind nicht die heute bekannten Elementarteilchen, sondern sogenannte Strings – winzig kleine Fäden – die Bausteine aller Materie. Für dieses Erklärungsmodell jedoch bräuchten wir dann noch Extra-Dimensionen – und es ist zurzeit völlig offen, ob all das jemals nachgewiesen oder widerlegt werden kann. Eine weitere Frage von mir war, ob er denkt, dass es Multiversen gibt und ob es sein kann, dass dann jedes Universum seine eigenen Naturgesetze hat. Seiner Meinung nach sind Multiversen nicht sehr wahrscheinlich – aber wenn es sie gäbe, könne es durchaus möglich sein, dass jedes einzelne seine ganz eigenen Naturgesetze hat.

Mir schwirrte der Kopf, als ich um 22 Uhr wieder im Bett lag …

Tag 3 – Der riesige Detektor, die Büroklammer-Kette und Spuren im Nebel

Lilli vor dem riesigen Teilchen-Detektor. Bild: Zeifert

Nach dem Frühstück im Restaurant 1 ging es zum CMS-Detektor – das ist ein riesiger Teilchen-Detektor am berühmten Large Hadron Collider (LHC), dem viele Kilometer langen Beschleunigerring des CERN. Der Zeitpunkt war perfekt: Der Detektor wurde gerade gewartet und war daher inaktiv. Eine Woche später und wir hätten nicht mehr runter gedurft. Nach den ganzen Sicherheitsprotokollen, die es zu beachten gab, kamen wir zunächst in den Raum, wo die ganzen großen Computer stehen, die die Daten entweder weiterleiten oder gleich verwerfen. Und dann ging es tatsächlich zu dem riesigen CMS-Detektor – einer viele Meter hohen ringförmigen Anlage. Es war einfach nur atemberaubend dort zu stehen! Susanne und Claudia haben mir dann noch einige Anekdoten erzählt. Zum Beispiel, dass sich eine Kette aus Büroklammern zum Detektor hin biegt, wenn er aktiv ist, oder dass sich Handys in seiner Nähe selbstständig machen und komplett ausgehen. Wir durften noch in den CMS-Kontrollraum, wo ich wieder Fragen stellen konnte – diesmal an Dr. Jory Sonneveld. Vor allem haben mich die weiteren Ziele bei CMS interessiert. Die Antwort: Die Datenverarbeitung verbessern und neue Teilchen finden.

Im Kontrollraum für den CMS-Detektor. Bild: Zeifert

Im S’Cool-Lab – dem Schülerlabor des CERN – haben wir anschließend eine eigene kleine Nebelkammer gebaut. Wer glaubt, dass man Teilchen mit dem bloßen Auge nicht sehen kann, irrt sich gewaltig. Zwar kann man kein einzelnes Teilchen aus der Nähe betrachten, aber man kann ihre Spuren im Nebel sehen und dann daraus schließen, um welches Teilchen es sich handelt. Denn die Spuren sind je nach Teilchen-Typ unterschiedlich: sehr dick oder dünn, schnell oder langsam, gerade, zickzack oder quer. Wir sahen uns noch einen 3D-Film über den ATLAS-Detektor an, durften durch eine Scheibe in den ATLAS-Kontrollraum sehen und auch den allerersten CERN-Teilchenbeschleuniger besichtigen. Wir saßen noch gemeinsam beim Abendessen im Restaurant 1, gefolgt von einer stundenlangen Unterhaltung. Ich weiß gar nicht, um wieviel Uhr wir dann schließlich schlafen gingen.

Tag 4 – Schöne Erlebnisse verblassen so schnell. Haltet sie fest!

Nachdem wir aufgestanden waren, checkten wir aus, trafen uns zum Frühstück ein letztes Mal mit Susanne im Restaurant 1 und verabschiedeten uns. Sie gab mir meine Teilnahmebestätigung und dann fuhren meine Mutter und ich noch zum Globe. Das ist diese riesige Holzhalbkugel, von der viele denken, das wäre der LHC und dort drin würden die Schwarzen Löcher erzeugt … Nein, da drin ist eine öffentliche Ausstellung – mit allen Informationen, die ich in den drei Tagen vermittelt bekommen habe, schnell und komprimiert zusammengefasst.

Im Auto holte mich dann die normale Welt ein und das war sehr erschreckend. Stellt euch vor, ihr erlebt einige Tage lang eine Welt voller Wunder und ihr sagt: „Ja, genau hier gehöre ich hin! Das möchte ich später auch machen!“ und plötzlich BAAAM! holt euch die Realität ein. Da merkt man erst, mit welchen „unbedeutenden“ und „kleinen“ Problemen sich die Umwelt, in der man lebt, beschäftigt und mit denen man sich möglicherweise auch selbst beschäftigt hat. Die schönen Erlebnisse verblassen immer so schnell. Haltet sie fest! Und wenn ihr auch Interesse an einem CERN-Workshop habt, besucht doch mal die Webseite von „Netzwerk Teilchenwelt“: http://www.teilchenwelt.de