Jedes Jahr ziehen Millionen von Zugvögeln von ihren südlichen Winterquartieren zu ihren Brutgebieten in den nördlichen Regionen und wieder zurück. Auch viele Fledermaus- und unzählige Insektenarten bewältigen auf ihren Wanderungen große Strecken. Doch welche Distanzen legen sie dabei genau zurück, und welche Flugrouten nutzen sie? Wo legen sie Zwischenstopps ein, um zu rasten? Fragen wie diese will das Projekt ICARUS (International Cooperation for Animal Research Using Space) beantworten. Dabei werden Tierwanderungen auf der Erde vom Weltall aus verfolgt. Ab dem Jahr 2020 wird eine neue Technologie hierfür auf der Internationalen Raumstation ISS getestet.
Die wissenschaftlichen Ziele von ICARUS sind vielfältig: So sind das Bewegungsprofil und die Wanderrouten von Tieren wichtig, um deren Verhalten zu erforschen. Auch die Größe und Lage von Schutzzonen könnte durch dieses Wissen optimiert werden. Zudem verbreiten etwa Vögel und Fledermäuse auf ihren Wanderungen die Samen von Pflanzen, die sie als Nahrung aufgenommen haben. Hierdurch verändern sie die Ökosysteme, die sie durchqueren.
Doch Tiere können nicht nur Kuriere für Pflanzen-, sondern auch für Krankheitskeime sein. Informationen über die exakten Wanderrouten können daher hilfreich sein, um Epidemien vorzubeugen oder einzudämmen. Hoffnungen machen sich die Forscher auch in Bezug auf die Vorhersage von Naturkatastrophen, wie etwa Erdbeben und Vulkanausbrüchen. Tiere zeigen oft im Vorfeld dieser Ereignisse ein auffälliges Verhalten, das mit ICARUS erfasst und als frühes Warnzeichen Eingang in die Katastrophenprävention finden könnte.
Über die Tierwanderungen auf der Erde gibt es auch in unserer heutigen, international vernetzten Welt noch wenige globale Daten. Zwar werden bereits seit vielen Jahren Tiere mit Sendern (so genannten Tags) ausgestattet und deren Signale zu Lande, per Flugzeug oder Satellit verfolgt, doch lässt sich diese Methode nicht für alle Tierarten anwenden. Zwei der Hauptprobleme dabei sind die Größe und das Gewicht dieser Sender. Derzeit wiegen die Geräte, die sich mit Satelliten-Telemetrie auslesen lassen, rund 20 Gramm. Damit lassen sich nur relativ große und kräftige Tiere ausstatten, wie zum Beispiel Störche und Gänse. Außerdem sind die Sender oft unzuverlässig, was zu Datenverlusten führt.
Neue Miniatursender sind so groß wie ein Daumennagel
Das ICARUS-Projekt arbeitet an der Miniaturisierung der Sender, um sie für kleine und kleinste Tiere tauglich zu machen. Die ICARUS-Tags, mit denen ab Frühjahr 2018 mehrere Zehntausend Tiere ausgestattet werden sollen, wiegen nur fünf Gramm und haben eine Fläche von zwei Quadratzentimetern. Gerade mal so groß wie ein Daumennagel werden sie mit Solarenergie betrieben und beherbergen eine komplexe Sende- und Empfangseinheit sowie Sensoren zum Aufzeichnen der Tierbewegungen und einen Datenspeicher.
Im Oktober 2017 flog der erste Teil der dazugehörigen ISS-Ausrüstung dank eines Kooperationsabkommen mit der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos in einem Progress-Frachter zur Raumstation. Die ICARUS-Antenne folgte dann mit einem zweiten Progress-Start im Februar 2018. Bei einem Außenbordeinsatz im August 2018 wurde die ICARUS-Antenne am russischen Segment der ISS installiert. Innerhalb der Station sorgt ein Computersystem für die richtige Verarbeitung der ICARUS-Daten.
Timer "wecken" die Sender, sobald die ISS in Reichweite kommt
Wenn ein Sender auf einem Tier befestigt ist, zeichnet er in einem Energiespar-Modus Daten zu Beschleunigung, Körpertemperatur und GPS-Position auf. Ein integrierter Timer weckt den Sender, sobald die ISS in Reichweite kommt. Dieser sucht dann nach einem von der ICARUS-Antenne auf der ISS ausgestrahlten Signal. Wenn er dieses empfängt, kann er mithilfe seiner eigenen GPS-Position und der ISS-Daten errechnen, wann die Raumstation das nächste Mal bei ihm vorbeikommt. Wenn dies geschieht, schaltet sich der Sender selbstständig ein und übermittelt die in der Zwischenzeit aufgezeichneten Daten zur ICARUS-Empfangsantenne auf der ISS. Anschließend werden die Daten zu einem Kontrollzentrum am Boden gesendet, von wo aus sie zum ICARUS-Nutzerdatenzentrum weitergeleitet werden. Dort speisen Wissenschaftler die Daten in eine weltweite Datenbank für Tierbewegungen, die sogenannten "Movebank", ein. So werden sie für die wissenschaftliche Nutzung zugänglich.
Zweijähriger Testbetrieb im Weltall
Zwei Jahre soll der Testbetrieb von ICARUS auf der ISS dauern. Ein erstes Experiment auf der Erde wird noch ohne Tiere am Bodensee stattfinden. Danach starten Projekte mit Amseln, Tauben, Enten und Flughunden - zahlreiche Vorhaben sind bereits weltweit ausgewählt. Bewährt sich die ICARUS-Technologie, soll in weiteren Schritten die Größe der Sender weiter verringert werden. Außerdem soll eine kompakte Sende- und Empfangshardware entwickelt werden, die auf anderen Satelliten "Huckepack" als so genannte Hosted Payload mitfliegen kann. So könnte das Beobachtungsnetz noch wesentlich engmaschiger und zuverlässiger gestaltet werden.
Für das ICARUS-Projekt arbeiten zahlreiche Wissenschaftler weltweit sowie die Raumfahrtagenturen aus Deutschland und Russland zusammen. Geführt wird das internationale Wissenschaftskonsortium vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell am Bodensee. Seit Dezember 2013 finanziert die Max-Planck-Gesellschaft die Miniaturisierung der Sender für das Projekt. Mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) unterstützt die Deutsche Raumfahrtagentur die Erprobung der neuen Sender und der dazugehörigen Sende- und Empfangseinrichtung auf der ISS.