AGBRESA: Strikte Bettruhe für 60 Tage
Den Kopf nach unten, die Beine hoch gelagert rollt Proband B in Richtung Zentrifuge. Vielmehr wird er auf seiner Liege gerollt. In den nächsten zwei Monaten darf er nicht auf seinen Beinen stehen. Von den wenigen Metern aus der Probandenstation zur Zentrifuge sieht Proband B auf seiner Liege vor allem eines an ihm vorbeiziehen: die Decke des :envihabs. In dem 5400 Quadratmeter großen Gebäude wohnten bereits die ESA-Astronauten Alexander Gerst, Andreas Mogensen, Timothy Peake und Thomas Pesquet direkt im Anschluss an ihre Missionen, um auf die Auswirkungen der Schwerelosigkeit untersucht zu werden. Seit dem 25. März 2019 leben die Probanden der Bettruhestudie AGBRESA von NASA, ESA und DLR im :envihab des DLR. Und seit dem 14. April liegen alle zwölf in ihren Betten.
Bodenteam für die irdische "Mission"
60 Tage Liegen auf einem Bett, das um sechs Grad in Richtung Kopf geneigt ist. Kein Aufstehen morgens, um zur Dusche zu laufen, keine Mahlzeit sitzend am Tisch und auch keine Fernsehabende auf der Couch. Bei den acht Männern und vier Frauen sollen sich die Körperflüssigkeiten verschieben und Muskeln und Knochen abbauen. So wie es auch bei den Astronauten in der Schwerelosigkeit geschieht. Doch diese können durch die Internationale Raumstation ISS zumindest schweben.
Die irdischen Astronauten im :envihab des DLR hingegen brauchen für ihre "Mission" die Unterstützung ihres Bodenteams: Ärzte, Projektleiter, das DLR-Studienteam, Assistenten, Physiotherapeuten, internationale externe und DLR-interne Wissenschaftlerteams und über 50 studentische Hilfskräfte schieben die Probanden auf ihren Liegen hin und her, bringen ihnen das Essen, untersuchen in rund 150 Experimenten unter anderem ihre Muskeln, Knochen, den Augeninnendruck, den Kreislauf oder ihre kognitiven Fähigkeiten und lassen sie auf der Zentrifuge im :envihab rotieren.
Im Takt mit dem engen Zeitplan
Trotz Beginn der Bettruhe ist es daher am Tag nicht stiller geworden: In der Probandenstation läuft der Betrieb auf Hochtouren. Lediglich der Laufparcours zwei Räume weiter steht verlassen da, die Sprungplatte bleibt unbenutzt in der Ecke – in den vergangenen zwei Wochen wurden hier noch Daten erfasst, die mit den Werten nach der Bettruhestudie verglichen werden. Nun sind die Abläufe auf liegende Probanden ausgerichtet: Ein Proband muss zum MRT gebracht werden. Ein anderer wird gerade von der Zentrifuge auf der Liege zurückgefahren. Die ersten Mittagessen werden in die Einzelzimmer gebracht. Wie ein Orchester, das sich perfekt getaktet durch das Werk spielt, arbeitet sich die Tagschicht durch den Studienplan, der die enge Taktung vorgibt. Fast zwei Jahre Planungszeit stecken in der Tabelle, die auf einem großen Bildschirm in der Probandenstation angezeigt wird. Bunte Kästchen zeigen, wann welcher der Probanden zu welchem Experiment gebracht wird, wann wer zum Essen in seinem Zimmer sein muss und wann welche Blutabnahmen und Blutdruckmessungen vorgesehen sind. Alleine über 24000 Röhrchen für Blutproben mussten für die AGBRESA-Studie vorbereitet werden. Am Ende der Studie werden 650 Stunden Experimentzeit mit den zwölf Probanden erreicht sein.
Betreuung rund um die Uhr
Noch ist die Kopftieflage mit ihren strengen Regeln den Probanden nicht in Fleisch und Blut übergangen: Eine Schulter muss immer in Kontakt mit der Matratze bleiben, das Essen wird in der Seitenlage eingenommen, damit der Kopf nicht zu sehr angehoben wird, und die Beine dürfen im Bett nicht aufgestützt werden. Über einen Monitor kontrollieren studentische Hilfskräfte, dass die Liegeposition eingehalten wird. Die Studie wird ganze Datenberge liefern – doch diese müssen unter ganz exakten Rahmenbedingungen erhoben werden. "Wir versuchen, es unseren Probanden möglichst angenehm zu machen", sagt Projektleiter Dr. Edwin Mulder. Täglich findet eine Arztvisite statt, drei Mal in der Woche werden die Probanden zur Ernährung befragt, die in der DLR-Küche im :envihab zubereitet wird, alle zwei Tage massiert und dehnt ein Physiotherapeut die Muskeln der Probanden. Wer möchte, wird am Abend zum gemeinsamen Fernsehen mit seinem Bett in den Aufenthaltsraum geschoben. Per Internet und Handy halten die Probanden Kontakt zu ihren Familien und Freunden in der Außenwelt – ein Besuch in der Probandenstation ist nicht möglich. Es würde zu viel Unruhe verursachen und den ausgeklügelten Zeitplan stören. Stattdessen wird selbst der bodenständige Brief wieder bemüht: Heute sind vier dicke Umschläge per Post für die Probanden angekommen.
Von Experiment zu Experiment
Die Türen des Zentrifugen-Moduls im :envihab öffnen sich – Proband B wird mit seiner Liege ins Innere gefahren. Nach dem Verkabeln wird er für 30 Minuten auf der Zentrifuge liegen und durch die Rotation einer Schwerkraft von 1 G ausgesetzt. Dies könnte eine effektive Maßnahme gegen die Auswirkungen der simulierten Schwerelosigkeit sein. Getestet hat dies bisher in einer Langzeitstudie noch niemand. Die studentische Hilfskraft befestigt ein Schild am Eingang: „Subject B is in here“. Für die nächsten 30 Minuten wird der Proband auf der Zentrifuge liegen. Und dann muss ihn wieder jemand abholen und zum nächsten Experiment fahren. Ruhig wird es in der Bettruhe-Studie erst am Abend werden: Um 19 Uhr beginnen das Abendessen und die anschließende Nachtruhe. Morgens, um 6.30 Uhr, klopft dann wieder das Team an die Türen der Probandenzimmer. Blutdruckmessung, Speichelabnahme, Visite...
Ist die erste Kampagne der Bettruhe-Studie für die ersten zwölf Probanden vorbei, beginnen die Vorbereitungen für die nächste Runde der AGBRESA-Studie Anfang September. Noch bis Ende Mai können sich potenzielle Probandinnen und Probanden bewerben. Nach einem Info-Abend, einer ausführlichen medizinischen Untersuchung und einem psychologischen Gespräch werden dann die nächsten zwölf Probanden ausgewählt. Die „Mission“ der irdischen Astronauten mag zwar kürzer als die meist sechsmonatigen Aufenthalte der Astronauten auf der Internationalen Raumstation ISS sein – sie ist aber nicht weniger anspruchsvoll.
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