Das 9-Euro-Ticket im Sommer 2022 – Ein Segen oder droht der Kollaps?
Coronakrise, der Krieg in der Ukraine – die Energie- und Mobilitätskosten sind in den letzten Wochen und Monaten immer weiter gestiegen. Die finanzielle Mehrbelastung ist für die meisten Bürgerinnen und Bürger deutlich spürbar. So wundert es nicht, dass die Ideen und Pläne der Bundesregierung zur finanziellen Entlastung in Medien und Gesellschaft genau verfolgt werden. Zentrales Element ist das sogenannte 9-Euro-Ticket. In den Sommermonaten Juni bis August 2022 soll der Preis der Monatstickets für den Nah- und Regionalverkehr drastisch reduziert werden. Jetzt ist das 9-Euro-Ticket beschlossene Sache. Viele Menschen freuen sich darauf. Aber die Reaktionen fallen gemischt aus. Wieso eigentlich? Wir haben beim DLR-Institut für Verkehrsforschung in Berlin nachgefragt.
Die einen sehnen sich nach der Schonung des Geldbeutels. Die anderen erwarten eine derart große Nachfrage, dass sie den Kollaps des Schienenverkehrs kommen sehen. Die DLR-Verkehrsforschung beschäftigt sich unter anderem genau mit solchen Themen und Konzepten. Unsere Forschenden analysieren zum Beispiel das Mobilitäts- und Verkehrsverhalten von Menschen in Städten und auf dem Land. Oder sie erstellen Modelle zur Prognose der regionalen Verkehrsnachfrage. Wir haben beim DLR-Verkehrsforscher Tudor Mocanu zum 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und den Regionalverkehr befragt. Mocanu ist Leiter des Teams Verkehrsmodellierung am Berliner Institut.
Wo liegen die Chance, wo die Risiken für Nutzer und Anbieter des 9-Euro-Ticket? Was überwiegt?
Das 9-Euro-Ticket wird zunächst dazu führen, dass Fahrgäste den öffentlichen Nahverkehr ohne finanzielle und bürokratische Hürden im „Tarif-Dschungel“ nutzen können. Die offensichtliche Chance besteht darin, dass ein nennenswerter Anteil der Personen ihr Auto stehen lassen und auf den ÖPNV umsteigen wird. Das hätte wiederum positive Auswirkungen auf den Energie- und Ressourcenverbrauch und für den Klimaschutz. Für die ÖPNV-Betreiber existiert die Chance, neue Kunden zu gewinnen und diese auch langfristig vom öffentlichen Verkehr zu überzeugen.
Gleichzeitig besteht allerdings die Gefahr, dass die Erfahrungen der Fahrgäste in diesen drei Monaten nicht nur positiv ausfallen. Zu erwarten ist zumindest eine punktuelle Überlastung auf bestimmten Routen und zu bestimmten Tageszeiten. Dieser potentielle Verlust an Komfort wird nicht für alle Fahrgäste durch niedrigere Preise zu kompensieren sein. Im schlimmsten Fall riskieren die Betreiber, langjährige Stammkunden durch diese Aktion zu verlieren.
Ist das ein Konzept, das auf Dauer funktionieren kann? Warum ja oder nein?
Das 9-Euro-Ticket wird unter den derzeitigen finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen des öffentlichen Nahverkehrs in Deutschland nicht auf Dauer funktionieren können. Das zeitlich begrenzte Angebot ist nur dadurch möglich, dass der Bund die Einnahmenausfälle der ÖPNV-Betreiber ersetzt. Auf Dauer beträgt diese Summe rund 15 Milliarden Euro pro Jahr. Hinzu kämen noch zusätzliche Mittel für Investitionen in den Ausbau des Angebots und die Erhöhung der Attraktivität sowie schnellere Verbindungen, höhere Takte und so weiter. Es ist daher kaum vorstellbar, dass der Bund diese Mittel dauerhaft über Steuergelder bereitstellen wird.
Das 9-Euro-Ticket ist nur ein Teil des Entlastungspakets. Welchen Einfluss wird die Steuersenkung für Kraftstoffe auf Nachfrage und Nutzung des vergünstigten ÖPNV-Tickets haben?
Generell führt eine Absenkung der Kraftstoffpreise für den motorisierten Individualverkehr zu einer niedrigeren ÖPNV-Nachfrage. In der derzeitigen Situation ist allerdings zu beachten, dass die Kraftstoffpreise auch mit der Steuersenkung auf einem allgemein hohen Niveau liegen. Durch die Kurzfristigkeit und die begrenzte Gültigkeitsdauer des 9-Euro-Tickets sind zunächst auch keine Auswirkungen auf langfristige Pkw-Besitzentscheidungen zu erwarten. Deswegen halte ich den Einfluss der Energie-Steuersenkung auf die Nutzung des ÖPNV-Tickets für gering.
Was erwarten Sie persönlich für die drei Monate...?
Ich erwarte, dass sich durchaus viele neue Kunden das 9-Euro-Ticket zulegen und in diesem Zeitraum den ÖPNV zumindest gelegentlich auch nutzen werden. Persönlich werde ich es genauso tun und die Flexibilität genießen, den ÖPNV jederzeit und überall ohne weitere Kosten nutzen zu können. Vermutlich werden das bei mir, ähnlich wie bei vielen der Neukunden, eher Freizeitwege sein. In diesem Zusammenhang bin ich schon darauf gefasst, dass es ab und zu in den Bussen und Bahnen auch mal enger werden könnte.
...und was für die Zukunft?
Bei diesem Experiment werden wir als Verkehrsforschende ein spannendes Szenario in Echtzeit beobachten und dabei vieles über die Präferenzen der ÖPNV-Fahrgäste lernen können. Das können wir wiederum in unseren Modellen verwenden, um zukünftig unsere Prognosen zu verbessern. Vielleicht führt dieses Experiment ebenfalls dazu, dass viele Menschen den ÖPNV in diesen drei Monaten ausprobieren und dadurch langfristig in der Gesellschaft das Bewusstsein für die Rolle und die Bedeutung des öffentlichen Verkehrs steigt.
Gibt es aktuelle Forschungsfragen im DLR zu dem Thema ÖPNV der Zukunft?
Im DLR wird an vielen Stellen zur Zukunft des ÖPNV geforscht und der ÖPNV auch über eine enge Zusammenarbeit mit Verkehrsbetreibern gestaltet. Eine zentrale Forschungsfrage ist, wie der ÖPNV unter anderem durch Einsatz von Digitalisierung und Automatisierung attraktiver gestaltet werden kann. Am Institut für Verkehrsforschung untersuchen wir, welche Nutzungspotenziale etwa flexible Angebotsformen wie On-Demand beziehungsweise bedarfsgerechte Angebote haben. Wir schauen, welche Anforderungen aus Sicht der Nutzer an den automatisierten ÖPNV bestehen und wie dessen Akzeptanz erhöht werden kann. Auch die bedarfsgerechte Gestaltung von Umsteigeknoten, sogenannten Hubs, zur Förderung der Multimodalität und Vernetzung der Verkehrsangebote ist ein wichtiges Thema in unserer Verkehrsforschung.
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