29. Februar 2024

Risiken einschätzen für den Katastrophenfall

Experten und Expertinnen aus Deutschland, Chile, Ecuador und Peru haben in einer internationalen Forschungskooperation unter Leitung des Earth Observation Center (EOC) des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) einen Demonstrator für ein Multi-Risiko-Informationssystem entwickelt. Mit diesem lassen sich kaskadierende Effekte und Wechselwirkungen von Naturgefahren in komplexen Katastrophenereignissen simulieren und darstellen. Durch die neuen Erkenntnisse können Risiken verringert oder ganz vermieden und die Bevölkerung auf drohende Gefahren vorbereitet werden.

Die Notwendigkeit, komplexe Risiken besser zu verstehen

Eine Gefahr kommt selten allein. So kann ein Sturm nicht nur Häuser abdecken, Bäume umknicken oder Straßen unpassierbar machen. Oft ist der Sturm von Starkregen begleitet, der Hangrutschungen verursachen kann, die ihrerseits Gebäude verschütten, oder der Niederschlag führt zu Hochwasser und Flutwellen in Bächen und Flüssen. Die Wassermassen können außerdem die Stromversorgung beeinträchtigen oder technische Störungen und Ausfälle z.B. in Industrieanlagen bewirken. Solche Schadenskaskaden lassen Katastrophen eskalieren. Auf derartige Multi-Risiko-Situationen ist unsere sozial, technisch und wirtschaftlich hoch vernetzte Gesellschaft nicht ausreichend vorbereitet. Die wachsende Urbanisierung und Folgen des Klimawandels verschärfen das Problem.

Risiken einschätzen für den Katastrophenfall
Valparaíso, Chile
Die Küstenregion von Valparaíso ist durch Erdbeben und Tsunamis stark gefährdet. Mehr als eine Million Einwohner leben im Großraum Valparaíso. Die Region war in der Vergangenheit zum Teil folgenschweren Erdbeben, Tsunamis, starken Regenfällen, Erdrutschen und Waldbränden ausgesetzt.

In der sechsjährigen internationalen Forschungskooperation „RIESGOS“ arbeiteten deshalb Experten und Expertinnen verschiedener Disziplinen aus Wissenschaft und Praxis zusammen, um die Katastrophenvorsorge besser auf solch komplexe Situationen vorzubereiten. Hierzu wurde unter Einbeziehung von Nutzern ein Demonstrator für ein webbasiertes Multi-Risiko-Informationssystem entwickelt. Dieser dient dazu, Wechselwirkungen von Naturgefahren sowie kaskadierende Effekte und deren Auswirkungen zu simu­lieren und darzustellen. Der Demonstrator kann in Ergänzung zu bereits etablierten Informationssystemen eingesetzt werden. Damit werden Behörden in die Lage versetzt, ihre Katastrophenvorsorge zu verbessern und beispielsweise die Landnutzungsplanung an Risikoszenarien anzupassen.

Forschung und Entwicklung für die Praxis

Drei besonders durch Naturgefahren bedrohte Regionen dienten dem Projekt als Pilotgebiete. Die erdbeben- und tsunamigefährdeten Küstengebiete von Valparaíso in Chile sowie Perus Hauptstadt Lima und die von Vulkanismus und Hangrutschungen bedrohte Region um den Vulkan Cotopaxi in Ecuador. Die Erfahrungen der südamerikanischen Zivil- und Katastrophenschutzbehörden, Ministerien und Hilfsorganisationen waren zentral für die bedarfs- und praxisorientierte Ausrichtung der Arbeiten. Forschung, Entwicklung und Anwendung wurden so eng verzahnt. Der entwickelte Demonstrator profitiert unter anderem von neuen Forschungsansätzen zur Multi-Risiko-Analyse und erlaubt z.B. kumulierte Schäden durch kaskadierende Ereignisse zu berechnen.

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Ecuador: Warnung vor dem Vulkan
Im Nationalpark Cotopaxi in Ecuador machen Warnschilder auf die Gefahr durch Vulkanaktivität aufmerksam. Hier befindet sich der 5.897 Meter hohe Cotopaxi - einer der höchsten aktiven Vulkane der Erde und meistbesuchte Gipfel Südamerikas. In der nördlichen Gefährdungszone befindet sich die Agglomeration El Valle de Los Chillos mit etwa 400.000 Einwohnern angrenzend an die Hauptstadt Quito, im Süden der Kanton Latacunga mit knapp 300.000 Einwohnern.
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Küste von Lima, Peru
Perus Hauptstadt Lima liegt an der Pazifikküste am Fuße der Anden und bildet mit der angrenzenden Hafenstadt Callao den größten Ballungsraum des Landes mit ca. 11 Millionen Menschen. Lima ist das Handels- und Industriezentrum sowie die kulturelle Metropole des Landes. Siedlungen und Infrastrukturen reichen dabei direkt bis an die Küste. Das Risiko durch Erdbeben und Tsunamis ist für die Menschen in dieser Region daher besonders hoch.

In Workshops und praktischen Übungen wurde das entwickelte System in allen Entwicklungsphasen von den potenziellen Anwen­dergruppen auf seine Praxistauglichkeit getestet und noch zu entwickelnde Komponenten identifiziert. Mit dem Demonstrator können Verlauf und Wechselwirkungen verschiedener Naturgefahren d dargestellt und analysiert werden. Die Auswirkungen auf kritische Infrastrukturen wie beispielsweise Stromnetze werden hier ebenfalls dargestellt. Verschiedenen Multi-Risiko-Situationen können ausgewählt und deren zeitliche Entwicklung analysiert werden: "Welche Schäden würde das simulierte Erdbeben an Gebäuden anrichten? Wie ändert sich das Schadensbild, wenn dem Beben ein Tsunami folgt?". Dafür kann der Nutzer entweder mit vordefinierten Parametern arbeiten oder sein Gefährdungs-Modell selber „konfigurieren“. Um die Auswirkungen von zwei verschiedenen Szenarien, zum Beispiel zweier Erdbeben unterschiedlicher Magnitude, zu vergleichen, steht dem Nutzer ein Split-Screen-Modus zur Verfügung.

Risiken einschätzen für den Katastrophenfall
Der RIESGOS-Demonstrator im Praxistest
Teilnehmer während der praktischen Übung mit dem „RIESGOS Demonstrator“. Ein Mitarbeiter der nationalen KRM-Behörde betrachtet zwei verschiedene Erdbeben-Szenarien unterschiedlicher Magnitude vor der Küste Limas. In beiden Fällen führen die Erdbeben zu einem Tsunami, deren Wassermassen unterschiedlich weit ins Landesinnere reichen würden.

Die einzelnen Systemkomponenten wurden als Open-Source-Software veröffentlicht und können jederzeit von Dritten weiterentwickelt und in beliebige operationelle Systeme integriert werden. Neben der Risikovermeidung und Vorsorgeplanung eignen sich die Entwicklungen u.a. für Anwendungen im Katastrophenmanagement oder für die Risikokommunikation.

Lernerfahrungen und Empfehlungen

Die wichtigsten Projekterkenntnisse wurden in einem von allen Partnern gemeinsam getragenen „Policy Brief“ festgehalten, der sich an Entscheider richtet, die im Kontext des Katastrophenrisikomanagements (KRM) und der damit verbundenen Forschung arbeiten. Dieser thematisiert die Herausforderungen von Multi-Risiko-Analysen sowie die Möglichkeiten und Grenzen technologischer Entwicklungen speziell im Spannungsfeld zwischen Forschung und Praxis. Darüber hinaus gibt der „Policy Brief“ Handlungsempfehlungen für das Katastrophenrisikomanagement in komplexen Multi-Risiko-Situationen.

Der „Policy Brief“ ist unter folgender DOI im Internet verfügbar: https://doi.org/10.15489/cwgicmtcja61

Das Management multipler Katastrophenrisiken bleibt auch künftig eine wichtige Aufgabe. Die Wissenschaft kann hierfür das erforderliche Wissen bereitstellen. Wissenschaftliche Modelle finden über Informationssysteme praktische Anwendung. Durch die Einbindung von Nutzern in den technischen Entwicklungsprozess können die Voraussetzungen geschaffen werden, dass neueste Erkenntnisse gezielt Eingang in Planungs- und Entscheidungsprozesse auf lokaler und regionaler Ebene finden.

Über das Projekt

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) förderte die Projekte RIESGOS (03G0876A-J) und RIESGOS 2.0 (03G0905A-H) im Rahmen der Strategie "Forschung für Nachhaltigkeit" (FONA) unter der Fördermaßnahme "CLIENT II - Internationale Partnerschaften für nachhaltige Innovationen".

Der Projektträger Jülich betreute die Projekte im Auftrag des Bundesforschungsministeriums fachlich und administrativ.

Die deutschen Auslandshandelskammern (AHK) in ChileEcuador und Peru unterstützten die KMUs, die u.a. das wirtschaftliche Potenzial der getätigten Entwicklungen untersuchten. Das Team kooperierte über die Projektlaufzeit mit einer Vielzahl von Forschungsinstitutionen und Behörden in den südamerikanischen Partnerländern Chile, Ecuador und Peru. 

GIZUNOOSA / UN-SPIDERUNESCO und MunichRE begleiteten die Projekte als assoziierte Partner.

Beiträge zur globalen Nachhaltigkeitsagenda

RIESGOS trägt zur Erreichung mehrerer Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) bei, wie zum Beispiel SDG 1 „Armut in allen ihren Formen und überall beenden“, SDG 11 „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ und SDG 13 „Maßnahmen zum Klimaschutz“. Das Demonstrator-System soll Planern und Katastrophenschützern helfen, sich im Vorfeld mit komplexen Katastrophensituationen auseinanderzusetzen, um für den Ernstfall besser darauf vorbereitet zu sein.