14. Juli 2022

Starre Hubschrauberrotorblätter - Ist das wirklich genügend?

Abbildung 1: Experiment und Simulation des dynamischen Strömungsabrisses
Links: Rotortestanlage Göttingen mit vierblättrigem Rotor, rechts: Aeroelastische numerische Simulation (transparent grau: Wirbelsystem, in Farbe: Biegeverformung der Rotorblätter)

Speziell geformte Hubschrauberrotorblätter mit einem Knick im äußeren Bereich ermöglichen es, den abstrahlenden lästigen Rotorlärm zu reduzieren [1]. Vor diesem Hintergrund ist das aeroelastische Verhalten zusammen mit dem dynamischen Strömungsabriss, auch bekannt als Dynamic Stall (engl.), von großer Bedeutung.

Rotorblätter mit Knick und der dynamische Strömungsabriss

Beim Dynamic Stall handelt es sich im Allgemeinen um ein aerodynamisches Abrissphänomen, das an Flügeln bzw. Tragflächen auftritt, die eine schnelle Anstellwinkeländerung erfahren. Bei Hubschraubern ist diese Voraussetzung für den schnellen Vorwärtsflug am rücklaufenden Rotorblatt, das sich in diesem Augenblick entgegen der Flugrichtung bewegt, gegeben. Ein Wirbel rollt sich hierbei auf der Oberseite des Rotorblattes auf, der kurzzeitig den Auftrieb erhöht. Er wandert über das Rotorblatt hinweg und „schwimmt“ schließlich ab, infolgedessen der Auftrieb plötzlich massiv einbricht. Schlussendlich werden die Rotorblätter dadurch extremen Torsionslasten und Schwingungen ausgesetzt, die zusätzlich angrenzende Bauteile beanspruchen, wie z.B. die Blattverstellstangen zur Einstellung der Nickwinkel der Rotorblätter.

Der dynamische Strömungsabriss im Experiment

In der Rotortestanlage Göttingen des DLR-Instituts für Aerodynamik und Strömungstechnik [2, 3], kurz RTG, lässt sich der dynamische Strömungsabriss in einem Experiment am Boden gezielt herbeiführen, s. Abb. 1 links. Eingespannt in einen Modellrotor durchläuft das Rotorblatt mit Knick [4] in diesem Fall eine definierte Auf- und Abnickbewegung. Begleitet werden die durchgeführten Experimente durch numerische Simulationen, in denen neben einer starren Modellierung der Rotorblätter zusätzlich Elastizität einbezogen wird, s. Abb. 1 rechts.

Das aeroelastische Simulationsverfahren

In der aeroelastischen Simulation werden üblicherweise für die beiden Teilgebiete Struktur- und Fluidmechanik unterschiedliche numerische Lösungsverfahren verwendet. Zum einen bildet ein Mehrkörpersystem (kurz MKS) mit Hilfe eines Verbunds aus einzelnen starren und elastischen Körpern die Strukturmechanik des Modellrotors ab [5], zum anderen dient die numerische Strömungssimulation (engl. Computational Fluid Dynamics, kurz CFD) zur Berechnung einer Strömungslösung. Bei Hubschrauberrotoren kommen als Besonderheit bewegte CFD-Rechennetze zum Einsatz, mit denen sich die komplexen Bewegungen der umströmten Rotorblätter wiedergeben lassen. Mittels der Chimera-Technik bewegen sich hierbei einzelne Rotorblattnetze in einem großen Hintergrundnetz. An deren Außengrenzen tauschen die bewegten Rotorblattnetze permanent Lösungsdaten mit dem Hintergrundnetz aus, so dass beispielsweise generierte Wirbel von den Rotorblättern ins Strömungsfeld abfließen können, vgl. Abb. 1 rechts. Schließlich verbindet ein Kopplungsalgorithmus beide Teilgebiete, indem ein Austausch von aerodynamischen Kräften und strukturellen Verformungen an den Rotorblättern stattfindet [6, 7].

Starr und elastisch modelliertes Blatt weichen voneinander ab

Abbildung 2: Hysteresekurven zur Blattnormalkraft
(Auf-↗ und Abnickvorgang ↙)

Analog zu Flugzeugflügeln, die im Reiseflug keine Nickbewegung vollführen, werden typischerweise die aerodynamischen Lasten und strukturellen Verformungen über dem Nickwinkel Θ des Rotorblatts, auch Einstellwinkel genannt, aufgetragen. Abb. 2 veranschaulicht hierfür als aerodynamische Last die Blattnormalkraft im Falle von starr und elastisch modellierten Rotorblättern. Auffallend ist der Unterschied im Kurvenverlauf zwischen dem Auf- und Abnickvorgang, der ein prägendes Merkmal für das beim dynamischen Strömungsabriss einsetzende Hystereseverhalten ist.

Frequenzanalyse erlaubt tieferen Einblick ins Geschehen

Sämtliche aerodynamische und strukturelle Blattlasten ändern sich während einer Rotorumdrehung, jedoch kehren sie nach genau einer Umdrehung wieder. Dies macht man sich zunutze, indem man sie als eine Summe mehrerer Sinus- und Kosinusfunktionen mit Frequenzen der Rotordrehfrequenz sowie deren ganzzahlige Vielfache, d.h. das 2, 3, 4, . . .fache, mathematisch beschreibt. Es handelt sich um die sogenannten Rotorharmonischen, die anhand dem Vielfachen nummeriert werden, s. Abb. 3. Sie geben detaillierteren Aufschluss und tragen zum tieferen Verständnis bei, indem nun die im Abrissvorgang enthaltenen Ereignisse einzeln, nach ihrer Frequenz getrennt, analysiert werden können.

Obwohl der Abrissvorgang lediglich ein Mal pro Rotorumlauf, entspricht der ersten Rotorharmonischen, herbeigeführt wird, zeigt die Frequenzanalyse auf, dass dessen aerodynamische Lasten zusätzlich höhere Rotorharmonische beinhalten. Für die Blattnormalkraft sind dabei die ersten fünf von wesentlicher Bedeutung, s. Abb. 3 links. Die oben genannten Unterschiede in den aerodynamischen Lasten zwischen starrer und elastischer Modellierung lassen sich nun in erster Linie auf die Beiträge der ersten und zweiten Rotorharmonischen eingrenzen. Interessanterweise besteht die Schwingungsbewegung der Blattspitze ebenfalls hauptsächlich aus beiden genannten Rotorharmonischen, s. Abb. 3 rechts. Ihre dominante Beteiligung hieran lässt sich zudem im Experiment beobachten.

Abbildung 3: Rotorharmonische in Frequenzdiagrammen
Links: Blattnormalkraft, rechts: Blattspitzenverformung

Wie lässt sich dieses Verhalten erklären?

Um das Problem in seiner Gesamtheit zu verstehen, sollte man folgender Frage auf den Grund gehen:
Weshalb hat das Rotorblatt einen Schwingungsanteil mit doppelter Rotordrehfrequenz?

Campbell-Diagramm

Bei einem sich drehenden Rotor hängen die Eigenfrequenzen oft von dessen Drehzahl ab, da sie von Kreiseleffekten und Fliehkräften beeinflusst werden. Vor diesem Hintergrund veranschaulicht ein Campbell-Diagramm deren Frequenzverläufe über der Drehzahl des Rotors. Zusammen mit den Rotorharmonischen, die als Geraden aufgetragen werden, lassen sich anhand von Schnittpunkten mit den Eigenfrequenzkurven
mögliche Resonanzfälle auffinden, da sich hierbei die Frequenzen der Anregung und der Eigenschwingung gleichen. Unter weiteren Voraussetzungen zeigt sich beim tatsächlichen Eintreten von Resonanz ein verstärktes Mitschwingen der Rotorblätter, die nun bereits bei schwacher Anregung hohe Schwingungsausschläge vollführen können.

Folgen durch den dynamischen Strömungsabriss

Abbildung 4: Campbell-Diagramm

Das Campbell-Diagramm in Abb. 4 offenbart einen Schnittpunkt in der Nähe der im Experiment gewählten Rotordrehfrequenz. In ihm schneiden sich die Frequenzkurve der ersten Biegeeigenschwingung mit der Geraden der zweiten Rotorharmonischen, so dass in diesem Betriebspunkt das Rotorblatt mühelos zum Mitschwingen mit doppelter Rotordrehfrequenz gebracht wird. Die Schwingungsbewegung des Rotorblattes geht mit Änderungen in der aerodynamischen An- und Umströmung einher, die im Wesentlichen zu dessen Normalkraft beitragen. Anhand der Frequenzanalyse lässt sich dieser Effekt wiederum etwas genauer beschreiben:

Aufgrund der Schwingungsbewegung mit vorwiegend erster und zweiter Rotorharmonischen ändern sich überwiegend die Beiträge der ersten und zweiten in der Normalkraft, s. Abb. 3.

Fazit zur aeroelastischen Simulation

Mithilfe der aeroelastischen Simulation lassen sich während des dynamischen Strömungsabrisses zusätzlich Effekte abbilden, die auf das Schwingungsverhalten der elastischen Rotorblätter zuruckzuführen sind. Ihr Einfluss auf die aerodynamischen Lasten lässt sich damit bestimmen, um in der Entwicklung zukünftiger Rotorblätter genauere Vorhersagen zu treffen. Die Modellierung von elastischen Rotorblättern ist also notwendig – starre Hubschrauberrotorblätter sind nicht genügend!

Literatur

[1] Splettstößer, W.R., van der Wall, B.G., Junker, B., Schultz, K.-J., Beaumier, P., Delrieux, Y., Leconte, P., Crozier, P.: The ERATO Programme: Wind Tunnel Results and Proof of Design for an Aeroacoustically Ouptimized Rotor. In: 25th European Rotorcraft Forum (1999).

[3] Rotortestanlage Göttingen (RTG) betrieben vom DLR-Institut für Aerodynamik und Strömungstechnik.

Autor: 

Georg Babij, Abteilung Aeroelastische Simulation, DLR-Institut für Aeroelastik

Kontakt

Prof. Dr. Holger Hennings

Leitung Aeroelastische Simulation
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Institut für Aeroelastik
Bunsenstraße 10, 37073 Göttingen