27. August 2015

Irdische Astronauten in Schräglage

Für die nächsten Wochen ist die Forschungseinrichtung :envihab des Deutschen Zentrums für Luft-und Raumfahrt (DLR) das Zuhause von zwölf kerngesunden Männern zwischen 20 und 45 Jahren. Die Zwölf sind Probanden einer Langzeit-Bettruhestudie - und werden deshalb nach zweiwöchigen Ausgangsuntersuchungen und -messungen anschließend für zwei Monate im Bett liegen. Dabei wird ihr Bett zum Kopf hin um sechs Grad nach unten geneigt sein, damit sich ihre Körperflüssigkeiten in Richtung Oberkörper verschieben; ihre Knochen und Muskeln der unteren Körperhälfte werden sich durch die Bewegungslosigkeit abbauen. "So simulieren wir die Auswirkungen der Schwerelosigkeit im All auf den menschlichen Körper", sagt DLR-Wissenschaftler Dr. Edwin Mulder, Leiter der Studie, die das DLR im Auftrag der ESA durchführt. "Unsere Probanden sind sozusagen irdische Astronauten." Die Hälfte dieser Probanden wird auf einem speziell entworfenen Trainingsgerät liegend mehrmals in der Woche ein Sprungtraining absolvieren. "Wir wollen herausfinden, ob dieses sehr intensive Training eine effektive Gegenmaßnahme gegen den Knochen- und Muskelabbau sein kann."

Messungen vom Knochenabbau bis zum Gleichgewichtssinn

Derzeit müssen Astronauten an Bord der Internationalen Raumstation ISS nämlich über zwei Stunden am Tag Sport treiben, um die negative Effekte ihres Arbeitsplatzes auf ihren Körper möglichst gering zu halten. Mit der Studie im DLR soll nun unter anderem untersucht werden, ob andere Übungen sich nicht noch besser als Gegenmaßnahme eignen könnten. Die Probanden der Trainingsgruppe werden daher fünf bis sechs Mal pro Woche vor allem mit kleinen, kräftigen Sprüngen trainieren. "Ein kurzes, knackiges Training mit einem starken muskulären Reiz - so etwas gibt es im All bisher noch nicht", erläutert Studienleiter Dr. Edwin Mulder vom DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin. Insgesamt führen die beteiligten Wissenschaftler rund 90 Experimente durch: Neben den Auswirkungen der Inaktivität auf Knochen und Muskeln während der zweimonatigen Bettruhe untersuchen sie Veränderungen des Herz-Kreislauf-Systems, des Gleichgewichtssinns, der Augen, der Thermoregulation oder auch des autonomen Nervensystems. Auf die Probanden kommen daher regelmäßig Untersuchungen und Messungen zu.

Erfahrungen sammeln für Beruf und Studium

Lucas Braunschmidt ist einer der zwölf irdischen Astronauten - kerngesund, wie ausführliche Tests gezeigt haben, ungefähr im Alter eines Astronauten und medizinisch interessiert. In den 60 Tagen und Nächten, die er im Bett liegen wird, wird die Knochendichte seiner Beine und seiner Hüfte voraussichtlich um zwei bis vier Prozent abnehmen. Die Muskeln in den Beinen und im Rücken werden abbauen - am stärksten ist dabei der Wadenmuskel mit bis zu 25 Prozent betroffen. Braunschmidt hat gerade seine dreijährige Ausbildung zum Ergotherapeuten erfolgreich abgeschlossen und schiebt die Teilnahme an der Studie vorm Berufsanfang im nächsten Jahr ein: "Mich interessiert die Erfahrung." Später einmal werde er schließlich Patienten behandeln, die eben diese Erfahrung gemacht hätten. Bettlägerig, angewiesen auf die Hilfe anderer, mit Knochen und Muskeln, die erst wieder aufgebaut werden müssen. Außerdem plant Braunschmidt für die Zukunft auch noch ein Medizinstudium - "und mit der Studie lerne ich die neuesten Untersuchungsmethoden kennen, habe zum Beispiel bei der Knochendichtemessung meinen Körper zum ersten Mal so gesehen und sehe, wie Forschung abläuft."

Strikte Bettruhe rund um die Uhr

Pro Tag ziehen zurzeit jeweils zwei Probanden in die DLR-Forschungsanlage :envihab ein. Nach einer detaillierten Erfassung ihre Werte vor der Bettruhe folgt dann ab dem 9. September 2015 nach und nach der Beginn der Liegephase. Während dieser Phase gilt: Niemand der Probanden darf aufstehen, immer muss eine Schulter an der Matratze bleiben - diese Regel muss bei allem vom Essen bis zum Duschen eingehalten werden. Auch ein regelmäßiger Tag-Nacht-Rhythmus und eine streng kontrollierte Ernährung sind vorgeschrieben. Temperatur und Luftfeuchtigkeit werden einheitlich in dem Forschungsmodul mit zwölf Einzelzimmern geregelt. Besuch ist zwar nicht erlaubt, der Kontakt über Handy und Internet zur Außenwelt ist jedoch möglich.

Langzeitbeobachtung der Probanden

Nach der Bettruhe werden alle Probanden nicht nur erneut zwei Wochen lang untersucht und vermessen, sondern auch mit Reha-Maßnahmen betreut. "Der Knochen- und Muskelabbau wird vollständig nach der Studie wieder ausgeglichen werden", erläutert DLR-Arzt Dr. Ulrich Limper, der als medizinischer Leiter die Studie begleitet. Die Erholungsphase ist daher besonders spannend für die Mediziner. "Allerdings untersuchen wir nicht nur die akute Erholung, sondern auch den langfristigen Aufbau von Knochen und Muskeln." Nach ihrem Aufenthalt im :envihab nehmen die Probanden daher an fünf Nachfolgeuntersuchungen im Laufe der nächsten zwei Jahre teil. "Bisher wissen wir, dass Knochenabbau wieder vollständig reversibel ist, allerdings dauert es länger, bis der ursprüngliche Zustand erreicht wird - und diesen Mechanismus wollen wir besser verstehen."

Weitere Studienteilnehmer gesucht

Für eine zweite Studienphase ab Ende Januar werden derzeit noch männliche Probanden zwischen 20 und 45 Jahren gesucht. "Wir benötigen gesunde Teilnehmer, denen bewusst ist, was sie bei der Studie erwartet, und die gut ins Team passen", erläutert Alexandra Noppe vom DLR-Studienteam. "Forschung funktioniert hier nur in einer Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Probanden." Nach einem ersten Fragebogen werden Interessierte zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. Bevor man als Proband ausgewählt wird, sollten allerdings die Auswertung psychologischer Fragebögen, einer medizinischen Untersuchung und eines psychologischen Interviews positiv ausfallen.

Lucas Braunschmidt nimmt sich für die freiwillige Bettruhe DVDs, Bücher und Zeitschriften mit. "Ich glaube nicht, dass mir langweilig werden wird", sagt er. Zum einen dauere ja selbst Duschen länger als üblich, dazu noch die Experimente - "da wird der Tag schon gut gefüllt sein." Im Familien- und Freundeskreis gab es zunächst öfter einmal sprachloses Staunen, wenn der 22-Jährige von seinem zukünftigen Probandendasein erzählte. "Ich konnte ja aber von Mal zu Mal besser erklären, was an dieser Studie so spannend ist."

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