DLR Magazin 151 - page 20-21

Die beiden Frecciarossa-Hochgeschwindigkeitszüge erreichen eine Höchstgeschwin-
digkeit von 360 Kilometern pro Stunde und haben eine Länge von 328 Metern.
In ihren Spitzen installierten die Wissenschaftler Messantennen und Abstandsradar,
um die Distanz der zwei Züge genau zu ermitteln und Informationen zwischen den
Zügen auszutauschen.
Die Arbeit in der Zugnase fordert von Paul Unterhuber Fingerspitzengefühl und
ganzen Körpereinsatz
Der Channel Sounder besteht aus einer Sende- und einer Emp-
fangseinheit. Der Empfänger zeigt, wie das Funksignal durch die
Umgebung reflektiert wird.
Die Nummer 28 ist, wie auch die Nummer 7, in deren Nase er gerade
die Antenne zur Funkkanalcharakterisierung befestigt hat, ein italieni-
scher Hochgeschwindigkeitszug – ein Frecciarossa, auf Deutsch: Roter
Pfeil. Diese beiden Züge sind nicht – wie üblich um diese Uhrzeit – mit
Passagieren besetzt auf dem Weg zu einem Bahnhof oder stehen zur
Reinigung im Depot. Heute Nacht befinden sie sich in den Händen
eines elfköpfigen Teams aus dem DLR-Institut für Kommunikation
und Navigation. Die Wissenschaftler nutzen die beiden Schnellzüge,
um während der Fahrt die Zug-zu-Zug-Kommunikation zu untersu­
chen. Dazu sind sie extra von Oberpfaffenhofen nach Italien gereist.
Auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Neapel und Rom
kann das Team bei nächtlichen Messfahrten auf 206 Kilometern seine
Untersuchungen durchführen. Die Forscher möchten herausfinden,
wie der Informationsaustausch zwischen zwei Zügen bei voller Fahrt
sichergestellt werden kann. Zur Vorbereitung der Messungen reiste
Paul Unterhuber schon vorher nach Neapel und Vicenza und rüstete
die Messzüge entsprechend aus: Vier Antennen auf dem Dach von
Zug Nummer 28, zwei Antennen auf dem von Zug Nummer 7 und
insgesamt 150 Meter Messkabel quer durch Waggons und Lokomo-
tiven. Fünf weitere Antennen müssen heute Nacht noch eingebaut
werden.
Inzwischen hat Paul Unterhuber seine Arbeit an der offenen Zugnase
beendet und telefoniert. Am anderen Ende ist Dr. Stephan Sand, der
Leiter der Gruppe Landverkehr am Institut für Kommunikation und
Navigation und Teamleiter der Kampagne. Während Paul Unterhuber
sich im Zug 7 um die letzten Installationen gekümmert hat, sorgte
Stephan Sand im Zug 28 dafür, dass alle Beteiligten so schnell wie
möglich startklar waren. „Wir sind bereit. Bis gleich am Bahnhof“,
sagt Paul Unterhuber ins Telefon. Wenig später setzt sich der Zug
langsam in Bewegung.
Signalstörung nach Mitternacht
Die Stazione di Napoli Centrale ist mit einem Passagieraufkommen
von 50 Millionen Fahrgästen pro Jahr einer der wichtigsten Bahnhöfe
Italiens. Als die beiden Züge um 1:00 Uhr am Bahnhof eintreffen, ist
allerdings nicht mehr viel los. Vereinzelt sind noch Fahrgäste unter-
wegs, Reinigungskräfte säubern die Bahnsteige. Für die Wissen-
schaftler muss es jetzt schnell gehen, denn jede Minute im Bahnhof
ist eine verlorene Minute für die Messung. Und beim Startsignal muss
jeder im richtigen Zug sitzen. Equipment wird zwischen den Zügen
ausgetauscht – bei einer Zuglänge von jeweils 328 Metern eine zeit-
raubende Angelegenheit. In den Waggons werden die Sende- und
Empfangseinheiten kalibriert. Konzentriert sitzen alle an ihren Instru-
menten. Dr. Michael Walter, Dr. Wei Wang und Dr. Thomas Jost
beugen sich über einen großen Kasten, den sogenannten Channel
Sounder. Michael Walter wirkt beunruhigt: „Ich höre ein Klacken –
kein gutes Zeichen!“
Mit dem Channel Sounder wollen die Wissenschaftler den Übertra-
gungskanal zwischen den beiden Zügen ganz genau charakterisieren.
Ein Impuls von 120 Megahertz Bandbreite wird bei 5,2 Gigahertz von
der Sendeeinheit ausgestrahlt und erreicht die Empfangseinheit, die
sich auf dem anderen Zug befindet. Anhand der Signale können die
Wissenschaftler Vorhersagen darüber treffen, wie eine bestimmte
Umgebung das Übertragungssignal beeinflusst. Mit den Ergebnissen
der Messung wird ein Modell für den Funkkanal erstellt. Darauf basie-
rend sollen in Zukunft Kommunikationssysteme entwickelt werden,
mit denen die Züge während der Fahrt Informationen austauschen
können. Tunnel, Brücken, Wälder – dies alles sollte im empfangenen
Signal für die Wissenschaftler erkennbar sein. Gestern, als das Team
Messungen in nur einem Zug durchgeführt hat, hat auch alles wun-
derbar funktioniert. Heute gibt es allerdings Probleme beim Kalibrieren: Die
Wissenschaftler empfangen Signale, die nicht ins Schema passen.
Mehrere Kollegen haben sich mittlerweile um das Messgerät versammelt und
probieren verschiedene Lösungsansätze aus – immer noch erhalten die Wissen-
schaftler Signale, die sie sich nicht erklären können. Mittlerweile stehen die beiden
Züge im Nirgendwo zwischen Neapel und Rom und die Zeit verrinnt. Schließlich
zieht Paul Unterhuber einen Schlussstrich: „Wenn wir es bis 3:00 Uhr nicht schaf-
fen, dann messen wir nur mit den anderen Instrumenten. Wir müssen langsam los
und sollten nicht noch mehr Zeit verlieren.“
3:00 Uhr – nach wie vor gibt es Kalibrierungsprobleme – der Zug setzt sich in
Bewegung.
Michael Walter, Wei Wang und Thomas Jost beginnen damit, das Equipment zu-
sammenzupacken. Enttäuschung macht sich breit, die heutige Nacht ist, zumin-
dest für die Messungen mit dem Channel Sounder, verloren. Doch der enge Zeit-
plan lässt eine aufwändige Untersuchung zur Fehlerbehebung jetzt nicht mehr zu.
Am nächsten Tag werden die Wissenschaftler mehrere Stunden damit verbringen,
jede Verbindung und jedes Kabel akribisch zu überprüfen, um den Fehler zu fin-
den. Höchstwahrscheinlich verursachte die Oberleitung Störungen im Signal. In
den folgenden beiden Nächten wird das Team dann bei den Messungen mit dem
Channel Sounder gute Ergebnisse erzielen und den Funkkanal zwischen zwei
fahrenden Hochgeschwindigkeitszügen genau charakterisieren können. Davon
weiß allerdings in der heutigen Nacht noch niemand etwas. Deshalb heißt es für
die drei Wissenschaftler: Kurz durchatmen, nachdem alles verstaut ist, der Rest
der Nacht wird schon noch lang genug. Jetzt hat auch Paul Unterhuber endlich
ein wenig Zeit, um ein Stück von seiner Pizza zu essen – die ist allerdings schon
lange kalt.
Kollisionsvermeidung bei Hochgeschwindigkeit
Ein anderes Bild bietet sich beim Blick zurück: Im Führerstand der Lok am Ende des
Zuges schaut Dr. Thomas Strang gespannt auf einen kleinen Laptopmonitor, hält
einen Telefonhörer in der Hand und hat gleichzeitig ein Funkgerät in Griffweite.
„220 Kilometer pro Stunde – Geschwindigkeit halten“, sagt er auf Englisch in
den Hörer. Er spricht mit dem Lokführer vorn und hält gleichzeitig Kontakt zu
seinem Kollegen Dr. Andreas Lehner in dem Zug, der ihnen folgt. Thomas Strang
schaut hinaus auf die schnell vorbeiziehenden Lampen am Rand der Bahnstrecke.
Von Zug Nummer 28 ist nichts zu sehen. Weit entfernt ist er allerdings nicht.
Strang deutet auf seinen Laptop, auf dem die Daten des Kollisionsvermeidungs-
systems RCAS (Railway Collision Avoidance System) angezeigt werden: „Hier
kann ich den anderen Zug sehen, wir haben im Moment noch eine Distanz von
ungefähr zehn Kilometern. Allerdings holen die anderen immer weiter auf und
demnächst müssten wir sie zu sehen bekommen.“ Und wirklich, kurze Zeit später
biegen Lichter um eine Kurve, die der Schlusslok des voranfahrenden Zuges näher
kommen.
Das in den beiden Hochgeschwindigkeits-Messzügen installierte RCAS-System
erfasst ständig relevante Parameter wie Position, Streckenführung, Geschwindig-
keit und Bremsvermögen. Diese Informationen werden an alle Züge in der nähe-
ren Umgebung gesendet. Während der Fahrt vergleicht das System die eigenen
Parameter mit denen der anderen Züge. Die exakte Kenntnis und der Vergleich
der Parameter machen es möglich, Konfliktsituationen schnell zu identifizieren.
Einen weiteren Vorteil bietet das System bei der Streckenbelegung: Derzeit wer-
den Streckenabschnitte immer nach dem maximalen Bremsweg kalkuliert. Befin-
det sich ein Zug auf einem Gleisabschnitt, muss der nachfolgende Zug einen Ab-
stand von bis zu zehn Kilometern einhalten. Mit dem RCAS-System könnten
Zugstrecken in Zukunft effektiver belegt werden, da die Länge des Bremsweges
zu jeder Zeit exakt bestimmt werden kann.
DAS PROJEKT
Wissenschaftler des DLR untersuchten in Italien vier
Nächte lang die drahtlose Zug-zu-Zug-Kommuni­
kation in und zwischen zwei Hochgeschwindigkeits­
zügen. Der italienische Partner Trenitalia stellte
ihnen dazu zwei Hochgeschwindigkeitszüge des
Typs Frecciarossa zur Verfügung. Die Messungen
wurden im Rahmen des EU-Projekts Roll2Rail auf
der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Neapel
und Rom durchgeführt. Bei Roll2Rail handelt es sich
um ein Leuchtturmprojekt aus der Shift2Rail-Initiative
innerhalb des Programms Horizont 2020. 31 europä­
ische Partner arbeiten daran, Schlüsseltechnologien
zu entwickeln und die Zuverlässigkeit im Zugverkehr
zu erhöhen sowie Kosten zu senken.
Das Projekt Roll2Rail wird im Programm Horizont
2020 der Europäischen Union gefördert (Grant
Agreement No 636032). Es ist eng verbunden mit
dem DLR-Projekt Next Generation Train.
Bild: RDLR/Henrik Frensch
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