2. September 2016

Entführte Fähren, die Suche nach dem Mann über Bord und driftendes Popcorn

Im Lagezentrum leuchtet auf dem Bildschirm ein Alarm auf - eine Personenfähre hat scheinbar grundlos ihren geplanten Kurs verlassen. Schließlich verschwindet das AIS-Signal (Automatic Identification Signal) auf der Anzeige. Spätestens jetzt müssen alle schiffsspezifischen Informationen angefordert und miteinander abgeglichen werden, um die Lage schnell zu klären und unverzüglich handeln zu können. Für das Projekt EMSec (Echtzeitdienste für die Maritime Sicherheit - Security) gehört dieses Szenario zu den Fällen, die in der Woche vom 5. bis 9. September 2016 erprobt werden. Als entführte Fähre dient die „Bayreuth“ der Bundespolizei See, der Tatort liegt in der Deutschen Bucht bei Helgoland, und das Lagezentrum wird vom EMSec-Forschungsverbund in Cuxhaven aufgebaut und betreut. Die Informationen kommen dabei in nahezu Echtzeit von Satelliten aus dem Weltraum und von Kameras an Bord von Flugzeugen. „Wir wollen erreichen, dass aus unterschiedlichen Datenquellen eindeutige und logische Schlüsse in Echtzeit gezogen werden können - und bündeln dafür die bereits bestehenden Kompetenzen aller Partner“, erläutert Dr. Stephan Brusch, EMSec-Projektleiter im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR).

Ausweichmanöver mit Fragezeichen

Insgesamt vier verschiedene Szenarien spielen die EMSec-Partner unter der Leitung der Programmkoordination für Sicherheitsforschung des DLR durch, um zum Projektabschluss die gewonnenen Erkenntnisse und Entwicklungen der vergangenen drei Jahre anzuwenden. In einem Fall wird das Lagezentrum darüber informiert, dass eine Fähre zwischen Helgoland und Cuxhaven unerwartet von ihrer Route abweicht. Von der Konsole mit der aktuellen Darstellung der maritimen Lage aus wird daraufhin eine Satellitenaufnahme angefordert, die das entsprechende Gebiet erfasst. Im konkreten Fall des EMSec-Demonstrators kann das Team im Lagezentrum auf Informationsprodukte der Radarsatelliten TerraSAR-X, Radarsat 2 oder Sentinel 1 sowie der optischen Satelliten Landsat 8, RapidEye oder World View zugreifen. Zudem ermöglicht das Demonstrationssystem auch den Einsatz und die Steuerung von Klein-Flugzeugen mit auswählbarer luftgestützter Sensorik. Im Einzelnen sollen neue Verfahren entwickelt werden, die den Einsatz von Flugzeugen im bemannten sowie unbemannten automatischen Flug vorsehen - zum einen im Verbund mehrerer Flugzeuge, zum anderen als Ergänzung zur satellitengestützten Komponente. Abrufbereit sind die Diamond DA42 von AIRBUS DS Airborne Solutions GmbH mit einem maritimen Radarsystem und AIS-Empfang sowie die Do 228 des DLR mit dem optischen Kamerasystem MACS.

In diesem Fall sollte der Leiter des Lagezentrums durch das Zusammenspiel aller Informationen herausfinden, dass die Fähre - simuliert von der Bundespolizei See - lediglich einem Fischkutter - simuliert von der Wasserschutzpolizei - ausgewichen und wieder auf die ursprüngliche Route zurückgekehrt ist. Alleine über den Empfang der AIS-Signale der Schiffe hätte das Ausweichmanöver nicht als solches erkannt werden können - kleinere Schiffe wie Kutter sind nicht zum Senden von AIS-Signalen verpflichtet und bleiben so „unsichtbar“. Ein Vorfall, der nicht selten vorkommt: „Manchmal werden Vorfahrtsregeln missachtet, manchmal schreiben diese auch vor, dass beispielsweise Tanker einem kleineren Schiff ausweichen müssen“, sagt DLR-Projektleiter Stephan Brusch. „Im maritimen Lagebild ist das nicht erklärbar - es sei denn, man kombiniert verschiedene Datenquellen mit der Erfahrung des Operators im Lagezentrum“.

Entführung in der Deutschen Bucht

Solch ein Sensor-Verbund, der in einem Komplettsystem ein umfassendes Lagebild liefern würde, wird auch für den zweiten Fall - die tatsächliche Entführung - eingesetzt. Das Szenario sieht dafür vor, dass die Mannschaft einer Personenfähre gezwungen wird, vom Kurs abzuweichen und beispielsweise auf eine maritime kritische Infrastruktur - in diesem Szenario ein Windpark bei Helgoland - zuzufahren. Zusätzlich wird das GNSS (Globales Navigationssatellitensystem)-Signal bewusst gestört, so dass das gesamte bordseitige Positions- und Lageinformationssystem kaum noch verfügbar ist. Die Fähre verschwindet somit auch auf dem Lagebild und wird unsichtbar für den Operator. Mit dem im EMSec-Projekt entwickelten Demonstrator kann die Störquelle gefunden und lokalisiert werden. Aber auch die Suche nach dem entführten Schiff wird ermöglicht, indem Satellitenbilder sowie luftgestützte Radar-, Kamera- und AIS-Daten gezielt und zeitnah eingesetzt werden. Dem Operator eines Lagezentrums würde die intelligente Zusammenfassung aller Daten die Arbeit erleichtern und beschleunigen.

Rettung für den Mann über Bord

Auch die Möglichkeit, dass bei einem Unglück oder einer Entführung Menschen bewusst über Bord gehen, wird in einem Szenario mit einem Sensor-Verbund durchgespielt. Dafür setzen die Seenotretter der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger (DGzRS) Dummies aus, die mit AIS-SART (SART - Search and Rescue Transponder) ausgestattet werden, um das Treibverhalten einer Person im Wasser zu simulieren. Tritt dieser Fall ein, arbeitet die DGzRS bisher mit Suchmustern, die auf Driftmodellen in Kombination mit der aktuellen Wetterlage basieren. Die hierfür sinnvolle luftgestützte Suche nach Personen im Wasser soll mit dem EMSec-Demonstrator erprobt werden. Mit der Kamera an Bord der Do 228 werden die Dummies im Wasser gefunden und ihre Position an das Lagezentrum gesendet. Solche Informationen könnten aber auch umliegende Schiffe erhalten, um im Rettungsfall zu unterstützen.

Popcorn-Teppich als Gefahrenstoff

Mit satelliten- und luftgestützten Kamerasystemen wollen die EMSec-Partner auch den Fall der Detektion einer Verschmutzung durch flüssige und schwimmende Gefahrenstoffe demonstrieren. 50 Kubikmeter Popcorn werden dafür von der „Bayreuth“ der Bundespolizei See über Bord gehen und so den schwimmenden Gefahrstoffteppich simulieren. Satellitensensoren im optischen Wellenlängenbereich, aber auch Flüge mit der Do 228 werden dem Lagezentrum die Informationen bieten, mit denen Driftrichtung und Größe der „Verschmutzung“ abgeschätzt werden kann.

Entwickelt wurden die verschiedenen Szenarien zu Beginn des EMSec-Projektes: Gemeinsam mit der Bundespolizei See, der DGzRS, den Wasserschutzpolizeien der Küstenländer und dem THW analysierten die Mitarbeiter des DLR und die Universität Rostock, welche Bedrohungen im maritimen Bereich für die deutsche Küste relevant sind. Ausgerichtet auf die Bedürfnisse dieser maritimen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben wurden die Aufgaben für den EMSec-Verbund definiert. „Das Konsortium will mit seiner Grundlagenforschung die behördlichen Endnutzer unterstützen, indem die benötigten Informationen für entsprechende Einsatzlagen schneller verfügbar sowie variabler und effizienter angefordert werden können“, sagt EMSec-Projektleiter Dr. Stephan Brusch von der DLR-Programmkoordination für Sicherheitsforschung. Mit der einwöchigen Kampagne in der Deutschen Bucht ist das EMSec-Projekt nun abgeschlossen. „Mit der Verknüpfung von den unterschiedlichsten Sensor-Daten in einem Verbundsystem sind wir einen Schritt weiter hin zur vollständigen Funktionalität gegangen.“ Detaillierte Auswertungen werden aufzeigen, in welchen Bereichen weitergeforscht werden muss. „Letztendlich könnte unser Demonstrator, der Informationen bündelt, schnell und intelligent auswertet, auch in vielen anderen Behörden im Sicherheitsbereich - also nicht nur in der maritimen Sicherheit - zum Einsatz kommen.“

Über die Durchführung der Szenarien berichtet das DLR in einem Blog und mit Videos.

Über das Projekt EMSec:

Das Verbundprojekt "Echtzeitdienste für die Maritime Sicherheit - Security" (EMSec) unter der Leitung der DLR-Programmkoordination für Sicherheitsforschung wird innerhalb des Programms "Forschung für die Zivile Sicherheit" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Beteiligt im DLR sind das Institut für Flugführung, das Deutsche Fernerkundungsdatenzentrum, Institut für Methodik der Fernerkundung, das Institut für Raumfahrtsysteme, das Institut für Kommunikation und Navigation sowie das Institut für Optische Sensorsystem. Die Partner des DLR sind ATLAS ELEKTRONIK GmbH, AIRBUS DS GmbH, AIRBUS DS Airborne Solutions GmbH, das Technische Hilfswerk, die Universität Rostock und weitere assoziierte Partnern. Nutzer des Projektes sind die Bundespolizei See, die Wasserschutzpolizeien der Küstenländer, die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger sowie das Havariekommando in beratender Funktion.

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Kontakt

Manuela Braun

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Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
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Dr. Stephan Brandstetter

Co-Leiter Programmkoordination Sicherheits- und Verteidigungsforschung (kommissarisch)
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Linder Höhe, 51147 Köln