Artikel aus dem DLRmagazin 172: Daten aus dem Wasser, aus der Luft und vom Land zum Schutz maritimer Infrastrukturen

Alles im Blick

Kameraaufnahmen zeigen die aktuelle Situation vor Ort
Lagebilder auf Basis unterschiedlicher Sensordaten können Häfen und Offshore-Windparks vor Unfällen und Angriffen schützen

Die Sabotageakte an den Ostseepipelines oder auch die europäische Abhängigkeit von globalen Energielieferketten machen deutlich, wie wichtig es ist, maritime Infrastrukturen zu schützen. Informationen aus dem Wasser, aus der Luft und vom Land helfen dabei, einen Überblick über Gefahrensituationen zu erhalten. In Bremerhaven entwickeln Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am DLR-Institut für den Schutz maritimer Infrastrukturen Lagebilder auf der Basis unterschiedlicher Sensordaten, um Häfen und Offshore-Windparks vor Unfällen und Angriffen zu schützen oder versunkene Objekte zu inspizieren.

Im Projekt MARLIN (Maritime Awareness Realtime Instrumentation Network) arbeitet das DLR daran, in einem Echtzeit-Lagebild sicherheitsrelevante Daten anzeigen zu können. Es soll Behörden und Hafenbetreibern helfen, die Situation jederzeit im Blick behalten und im Störfall vorausschauend eingreifen zu können. In das Lagebild fließen Informationen vom Wasser, aus der Luft sowie von der Landseite ein. Diverse Kameras sind am Hafen oder auf Drohnen installiert und autonome Tauchfahrzeuge können per Sonar die Lage unter Wasser erfassen. Die Einzelsysteme liefern gemeinsam ein umfangreiches Bild der Situation. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben das System bereits in zwei Anwendungsfällen getestet. Dabei konnten sie auch zeigen, wie gut das Zusammenspiel der einzelnen Sensoren funktioniert.

Mensch über Bord

Der erste Test fand 2019 im Bremerhavener Fischereihafen statt: Nebelfackeln simulierten einen Brand auf einem Schlauchboot und währenddessen gingen mehrere Kisten über Bord. Einige trieben auf dem Wasser, andere sanken zum Grund. Ein Besatzungsmitglied, in diesem Fall eine Seenotrettungspuppe, fiel ins Wasser. Im Hafenbereich fest installierte sowie mobile Kameras auf Einsatzfahrzeugen oder Drohnen, alle Teil des MARLIN-Systems, beobachteten die Situation und lieferten einen Überblick über die Gefahrenzone sowie die Umgebung. Wärmebildkameras erkennen Menschen auch bei schlechter Sicht, solange ihre Körpertemperatur noch nicht zu stark gefallen ist. Kameras mit aktiver Laserbeleuchtung, sogenannte Range-Gated-Systeme, können durch den Nebel sehen und den Abstand zu Objekten messen. Damit waren auch die Rettungspuppe und das Treibgut gut auffindbar.

MARLIN kombinierte die eingehenden Informationen und stellte sie in Echtzeit in einem Lagebildsystem dar. Sicherheitskräfte können so wertvolle Informationen erhalten und ihren Einsatz optimieren. Im Anschluss vermaß die DLR-Seekatze, ein autonomes Unterwasserfahrzeug, das Hafenbecken, um verlorene Ladung aufzuspüren und Beschädigungen im Hafenbecken zu finden. Detaillierte Aufnahmen von auffälligen Stellen lieferte ein kleinerer, ferngesteuerter Tauchroboter.

Auf einem Schlauchboot ahmt ein Team aus DLR-Forschenden das seeseitige Eindringen in den Hafen von Nordenham nach
Dies wurde vom System registriert und durch das zweite Team, das die Rolle von Sicherheitskräften übernahm, abgewehrt.

Störung eines anlegenden Schiffs

Im Oktober 2022 kam MARLIN ein zweites Mal auf den Prüfstand – diesmal im Hafen Nordenhams. Die Forschenden waren in zwei Teams eingeteilt. Das erste Team hatte die Aufgabe zu verhindern, dass die Güter eines fiktiven Gefahrenguttransports im Hafen an Land gebracht werden. Dazu spähte es die Lage zunächst mit einer Drohne aus. Dies wurde vom System registriert und durch das zweite Team, das die Rolle von Sicherheitskräften übernahm, abgewehrt. Daraufhin näherten sich die Eindringlinge in einem Boot sowie von Land. Als Ablenkungsmanöver zündeten sie an Land eine Nebelkerze, während sie mit dem Schlauchboot versuchten, unbemerkt in den Hafen zu gelangen. MARLIN bündelte alle Informationen und analysierte die Lage. So konnte das Team der Sicherheitskräfte in Bereitschaft versetzt werden. Nachdem die Einsatzkräfte auch diesen Eindringversuch erfolgreich abgewehrt hatten, drehte das Schlauchboot ab und die Gefahr war gebannt. „Die Demonstration lief für uns sehr zufriedenstellend. Unser Team musste in kürzester Zeit viele unterschiedliche Technologien in einem gemeinsamen Lagebildsystem vereinen“, sagt Dr. Maurice Stephan, Leiter der Abteilung Maritime Sicherheitstechnologien am DLR-Institut für den Schutz maritimer Infrastrukturen.

Das DLR-Unterwasserfahrzeug Seekatze taucht ab, um den Bremerhavener Fischereihafen nach versunkenen Gütern abzuscannen
Das Sonar der Seekatze vermisst den Untergrund des Hafenbeckens

Modularer Baukasten

Für MARLIN kommen eigens vom DLR entwickelte Technologien zum Einsatz. Hierzu zählt das vom DLR-Institut für den Schutz maritimer Infrastrukturen entwickelte Range-Gated-Kamerasystem, das einen sehr kurzen Laserpuls und eine spezielle Kamera kombiniert. So erzeugt es auch bei schlechter Sicht, zum Beispiel bei Dunkelheit, Schnee oder Nebel, detailreiche Bilder. Eine weitere Eigenentwicklung ist die MACS-Kamera vom DLR-Institut für Optische Sensorsysteme. Mit ihr können schnell digitale Karten von kleinräumigen Gebieten erstellt werden. MARLIN kombiniert die Eigenentwicklungen mit kommerziellen Systemen wie dem in der Seefahrt genutzten AIS (Automatic Identification System), 3D-Laserscannern und diversen Sonartechnologien. So kann es umfangreiche Lageinformationen bereitstellen. Für die Datenanalyse nutzt das System Methoden aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz, genauer gesagt des maschinellen Lernens. Diese erlauben es, relevante Objekte sowie auffällige Ereignisse in den betrachteten Szenen automatisch zu detektieren und zu klassifizieren. „MARLIN soll eine Basis für eine Vielzahl individuell nutzbarer Lagebildsysteme bilden. Aus diesem Systembaukasten können unterschiedliche Nutzergruppen dann die Hardware, wie Kameras, Unterwassersensorik oder Softwaremodule, für ihre individuellen Einsatzzwecke auswählen“, erläutert Maurice Stephan.

Autonomer Tauchroboter
Der Roboter erstellte zusammen mit der DLR-Seekatze im Projekt North Sea Wrecks detaillierte Aufnahmen versunkener Kriegsschiffe.

Sicht bis auf den Grund

Mit der Seekatze und dem Tauchroboter unterstützte das DLR bei dem vom Deutschen Schifffahrtsmuseum geleiteten Projekt North Sea Wrecks. Die DLR-Sensorik lieferte detaillierte Bilder, Scans und Videos von versunkenen Schiffen.

3D-Scan des Sperrbrechers Friesland
Das Schiff sank 1944 vor Helgoland. In dem Projekt North Sea Wrecks lieferte die DLR-Sensorik detaillierte Bilder, Scans und Videos von versunkenen Schiffen. Die Wracks, deren Ladungen und Treibstofftanks sowie die Munition an Bord sind sowohl Schifffahrtshindernisse und Giftstoffquellen als auch explosive Objekte.

Der Einsatz auf hoher See half den Forschenden dabei, die Unterwasserfahrzeuge für die eigens entwickelten Lagebildsysteme noch besser zu kalibrieren. Auf dem Grund der Nordsee liegen, nicht zuletzt aufgrund der beiden Weltkriege, hunderte Schiffsund Flugzeugwracks. Hinzu kommen tausende Tonnen konventioneller und chemischer Munition. Die Wracks, deren Ladungen und Treibstofftanks sowie die Munition an Bord sind sowohl Schifffahrtshindernisse und Giftstoffquellen als auch explosive Objekte. Sie bilden somit eine Gefahr für Mensch und Umwelt. In den Jahren 2021 und 2022 steuerte die Heincke, das Forschungsschiff des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI), ein Seegebiet um Helgoland an.

Versenkte Seeminen
Aus rostenden Wracks und Munition treten Giftstoffe aus, die Meerestiere und -Pflanzen belasten. Die giftige Munition soll deshalb geborgen werden.

Das DLR war mit an Bord und erstellte Unterwasseraufnahmen der Kreuzer SMS Mainz, SMS Ariadne und SMS Hela aus dem Ersten Weltkrieg sowie des Sperrbrechers Friesland aus dem Zweiten Weltkrieg. „Durch den Einsatz auf hoher See konnten wir unsere Sensorik und unseren Tauchroboter bereits weiterentwickeln. Hochaufgelöste Bilddaten liefern uns einen noch genaueren Überblick über die Lage unter Wasser“, berichtet Dr. David Heuskin, Leiter der Gruppe Technologieerprobungssysteme am DLR-Institut für den Schutz maritimer Infrastrukturen, und ergänzt: „Diese Erfahrungen helfen dabei, unsere Unterwassersensorik auch für weiträumigere Lagebilder im Meer zu nutzen.“

„Im Gefahrenfall ist es wichtig, gezielte Gegenmaßnahmen zu ergreifen und Energieversorger frühzeitig zu informieren, damit die Versorgung weiterhin gesichert ist.“

Dr. Frank Sill Torres, Kommissarischer Direktor des DLR-Instituts für den Schutz maritimer Infrastrukturen

Windparks schützen

Offshore-Windparks gehören zu den kritischen Infrastrukturen, die mithilfe von Lagebildern besser geschützt werden können
Im Projekt ARROWS (Applied Research on Resilience-driven Offshore Wind Farm Safety and Security) forscht das DLR an möglichen Gefahrenszenarien für Windparks.
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istockphoto/Riccardo_Mojana

Zu den kritischen Infrastrukturen, die mithilfe von Lagebildern besser geschützt werden können, gehören auch Offshore-Windparks, denn ihre Bedeutung für eine zuverlässige Energieversorgung nimmt stetig zu. Dementsprechend steigen auch die potenziellen Auswirkungen auf die Gesellschaft durch Sicherheitsbedrohungen. Mögliche Gefahren können Unwetter oder treibende Schiffe sein, aber auch menschengemachte Bedrohungen wie Sabotage oder Angriffe. Im Projekt ARROWS (Applied Research on Resilience-driven Offshore Wind Farm Safety and Security) forscht das DLR an möglichen Gefahrenszenarien für Windparks. Die Forschenden entwickeln Handlungsempfehlungen für Windparkbetreibende, Energieversorger und Sicherheitskräfte. Eine Besonderheit ist, dass sich sowohl Behörden der Küstenwache als auch potenzielle Angreifer auf dem Wasser nur wesentlich langsamer fortbewegen können als auf der Straße oder in der Luft. „Mit zunehmender Entfernung des Windparks von der Küste steigt die Reaktionszeit von Eingreifkräften wie der Bundespolizei See“, beschreibt Dr. Frank Sill Torres, kommissarischer Direktor des DLR-Instituts für den Schutz maritimer Infrastrukturen, die besondere Situation auf See. „Im Gefahrenfall ist es wichtig, gezielte Gegenmaßnahmen zu ergreifen und Energieversorger frühzeitig zu informieren, damit die Versorgung weiterhin gesichert ist.“

Gefahren erkennen, aber wie?

Für die Bewertung der Lage ist auch ist eine Vielzahl von Parametern nötig. Dazu gehören neben Informationen aus Kamera-, Radar- und Sonarsystemen auch AIS-, Wetter- und Meeresdaten. Ein mögliches Gefahrenszenario könnte ein Angriff auf ein Seekabel sein, das den Strom vom Windpark an Land leitet. In einer Karte ist vermerkt, wo Stromkabel gelegt sind und an welchen Stellen diese empfindlich für Angriffe sind. Weniger tief vergrabene Kabel können leichter manipuliert werden. Nähert sich also ein Schiff einer solchen Stelle oder folgt es einer Kabeltrasse, ist das ein auffälliges Verhalten. Das AIS-Signal des Schiffs sendet Informationen wie die Reiseroute, den Schiffstyp sowie die Landesflagge, unter der das Schiff fährt. Mit diesen Daten kann überprüft werden, ob das Schiff bereits in der Vergangenheit auffällig geworden ist. Es kann aber vorkommen, dass die AIS-Datenübertragung aufgrund technischer Probleme ausgefallen ist oder dass das Schiff diese auffällige Route fährt, weil sein Steuer defekt ist. Hier schafft eine Kontaktaufnahme, zum Beispiel über Funk, Klarheit. „Ein gefährliches Szenario ist nicht immer klar von einem ungefährlichen zu unterscheiden. Es kommt häufig auf Nuancen und Kleinigkeiten an“, ergänzt Frank Sill Torres.

Vom Lagebild zur Handlungsempfehlung

Zukünftig sollen Handlungsempfehlungen in Lagebildsysteme einfließen und diese „intelligenter“ machen. Kritische Objekte und Situationen könnten auf einer Seekarte oder einem digitalen Plan des Windparks grafisch angezeigt werden. Ein zukünftiges System soll ein ganzheitliches Modell des Windparks abbilden und Sicherheitskräfte sowie Betreibende in Gefahrensituationen bei ihren Entscheidungen zuverlässig und rechtzeitig unterstützen. „Wir freuen uns, einen Beitrag zur Versorgungssicherheit durch erneuerbare Energien zu leisten“, erklärt Ingenieur Sill Torres die verantwortungsvolle Aufgabe im Projekt ARROWS. „Ein stetiger Austausch mit Windparkbetreibenden, Sicherheitsbehörden und Energieversorgern ist uns sehr wichtig, damit wir diese durch die vom DLR entwickelten Lösungen bestmöglich unterstützen können.“

Ein Beitrag von Jana Hoidis aus dem DLRmagazin 172

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Julia Heil

Redaktion DLRmagazin
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