Artikel aus dem DLRmagazin 172: Interview zu den Rettungsarbeiten in der Türkei

Ein außergewöhnlicher Einsatz

Während der Rettungsarbeiten in der Türkei
Jörg Brauchle (links) und Matthias Geßner mit Vector-Drohne nach erfolgreichem Einsatz

Die Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion zählen zu den schlimmsten Naturkatastrophen der letzten hundert Jahre. Bilder aus der Luft können Rettungskräften helfen, sich zu orientieren und das Schadensmaß einzuschätzen. Seit 2016 kooperiert das DLR mit der Hilfsorganisation I.S.A.R. Germany (International Search-and-Rescue). In diesem Rahmen war Matthias Geßner mit seinem Kollegen Jörg Brauchle, beide vom DLR-Institut für Optische Sensorsysteme aus Berlin, vor Ort in der Türkei. Mit im Gepäck hatten sie das fliegende Kamerasystem MACS-Nano. In diesem Interview erzähl Matthias Geßner von ihrem Einsatz.

Matthias, Anfang Februar standet ihr gemeinsam auf einem Berg in der Stadt Kırıkhan. Erzähle uns davon.

Kartierung des lokalen Katastrophengebiets in Echtzeit
Das DLR-Team unterstützte die Hilfsorganisation I.S.A.R. Germany (International Search-and-Rescue) bei ihrem Einsatz in Kırıkhan.

: Das war ein sehr emotionaler Moment. Zu unseren Füßen lag die völlig zerstörte Stadt, in der die Leute auf der Straße wohnten und wo unfassbar viel Leid zu sehen war. Wir waren seit drei Tagen vor Ort und hatten bereits einige Kartierungsflüge mit unserem Kamerasystem MACS (Modular Aerial Camera System) durchgeführt. Schon nach dem ersten Flug mit der Drohne war jedoch klar, dass wir auf diese Weise unmöglich die ganze Stadt rechtzeitig kartieren können. Genau für solche Zwecke nutzen wir ein größeres Drohnensystem – das war jedoch zum Zeitpunkt des Bebens für Umbauten beim Hersteller Quantum Systems in Gilching. Also setzten unsere DLR-Kollegen und -Kolleginnen in Berlin und das Team des Herstellers alles in Bewegung, um die Drohne wortwörtlich über Nacht einsatzbereit zu bekommen. Parallel dazu konnten wir mit Unterstützung des Technischen Hilfswerks (THW) einen Frachtplatz im ersten regulären Hilfstransport aus Deutschland ergattern. So wurde innerhalb weniger Stunden ein einsatzbereites Flugsystem aufgebaut und ausgerüstet – gerade noch rechtzeitig zum frühmorgendlichen Start der Transportmaschine in die Türkei. Eine echte Teamleistung. Nach einer zwölfstündigen Autofahrt zum – geänderten – Ankunftsflughafen hatten wir die Drohne dann endlich in den Händen und konnten unser System am nächsten Tag zum ersten Mal fliegen – auf dem Berg in Kırıkhan. Die Anstrengungen hatten sich gelohnt: Innerhalb von einer Stunde kartierten wir mit unserer Kamera 3,5 Quadratkilometer der Stadt – dreimal so viel wie in den Flügen zuvor. Aber das war noch nicht alles: Genau in diesem Moment hatten wir eine stabile Internetverbindung – ansonsten lag die Telekommunikation weitestgehend brach. So konnten wir unsere Kartendaten direkt an das Einsatzleitsystem der UN übermitteln.

Bildflugplan der Vector-Drohne
Die Drohne war über der türkischen Stadt Kırıkhan im Einsatz

In diesem Einsatz wart ihr Teil von I.S.A.R. Germany. Welche Aufgaben hattet ihr neben den Drohnenflügen?

: Grundsätzlich ist es so, dass die Mitglieder von I.S.A.R. auf verschiedene Einsatzbereiche spezialisiert sind: Management, Ortung, Rettung und medizinische Versorgung. Wir durchliefen im Vorfeld diverse Trainingseinheiten, die uns zusätzlich befähigten, im Rettungsteam zu helfen. So konnten wir am Ankunftstag, an dem es für einen Drohnenflug bereits zu dunkel war, ein Team begleiten und dort anpacken, wo Hilfe nötig war.

Ihr fandet euch also direkt nach Ankunft inmitten der Trümmer wieder. Das war sicherlich nicht leicht.

: Ja, das stimmt. Es gab Situationen, auf die ich zwar in Übungen vorbereitet wurde, die aber noch mal eine ganz andere Dimension erhielten, als ich im realen Leben mit ihnen konfrontiert wurde. Menschen aus den Trümmern zu retten, ist mitunter extrem schwierig und kann sehr lange dauern. Hilfskräfte müssen sehr schnell Entscheidungen treffen, ob eine Rettung möglich ist oder nicht. Es gab Fälle, bei denen Menschen zwar aus den Trümmern befreit wurden, dann aber noch vor Ort verstarben. Mitunter standen die Angehörigen direkt daneben. Auf der anderen Seite erlebten wir Momente, in denen Menschen lebend gerettet wurden. Zu sehen, wie professionell und mit welchem Engagement das I.S.A.R.-Team in dieser Katastrophensituation gearbeitet hat, hat mich nachhaltig beeindruckt.

Zunächst kartierte das Team die Stadt Kırıkhan mit einem kleineren Drohnensystem.
Schnell verfügbare Luftbilder sind enorm hilfreich für die effektive Koordination der Einsatzkräfte vor Ort.

Wie können die Luftbilder bei den Arbeiten unterstützen?

: Schnell verfügbare Luftbilder sind enorm hilfreich für die effektive Koordination der Einsatzkräfte vor Ort. Mit ihnen können sich die Teams orientieren: Wo ist das Ausmaß der Zerstörung am größten? Welche Straßen sind passierbar? Wie kommen die Teams am schnellsten zum Einsatzort? Die MACS-Kamera ist extrem hochauflösend. Aus den Bildern wird in Echtzeit eine fotorealistische Luftbildkarte erzeugt, welche dann direkt auf die Mobilgeräte des I.S.A.R.-Teams oder des THW übertragen werden kann. Unsere Abteilung steht in engem Kontakt mit der International Search and Rescue Advisory Group (INSARAG) der UN. Dadurch können wir unsere Lagebilder auch in Echtzeit in deren Einsatzleitsystem, das ICMS (INSARAG Coordination and Management System), übertragen. Auf diese Weise erhalten alle beteiligten Hilfsorganisationen Zugriff auf die Lagekarten.

Was hast Du aus dem Einsatz mitgenommen?

: Ein derartiger Einsatz ist nur im Team zu schaffen. Jörg und ich nahmen vor Ort die Bilder auf. Währenddessen waren die Kolleginnen und Kollegen in Berlin rund um die Uhr eingebunden, sodass wir gemeinsam das bestmögliche Ergebnis erzielten. In vier Tagen entstanden über 15.000 Luftbilder, welche Details von zwei Zentimetern sichtbar machten. In diesem Einsatz konnten wir zeigen, wozu diese neue Technologie in der Lage ist. Eines unserer nächsten Ziele ist es, das DLR-System aus MACS-Kamera und Drohne als festes Element der Einsatzunterstützung bei I.S.A.R. Germany zu etablieren. Aus meiner Sicht könnte das die Katastrophenhilfe nachhaltig verbessern.

Ein Beitrag von Antje Gersberg und Julia Heil aus dem DLRmagazin 172

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