Offen für neue Antriebe

Eigentlich entstand die Idee schon in den 1940er Jahren: offene gegenläufige Rotoren zum Antrieb von Flugzeugen. Im Fokus standen die Verbesserung der Treibstoffeffizienz sowie die Ausdauer von Langstreckenbombern und Seeüberwachungsflugzeugen. In der Ölkrise der 1970er Jahre gewann die Idee neue Relevanz. Der GE36 von General Electric war 1989 der erste Demonstrator mit zwei gegenläufig drehenden Rotoren, der in ein Forschungsflugzeug integriert und in der Luft getestet wurde. Als die Ölkrise endete, schliefen Projekte wie dieses jedoch ein. Der Standard blieb unverändert: auf der Kurzstrecke Propellermaschinen, auf der Langstrecke ummantelte Turbinen-Strahltriebwerke. Offene Rotoren sind in der Luftfahrt bislang nicht im Einsatz – noch nicht, denn unabhängig von wirtschaftlichen Auf- und Abschwüngenbeschäftigen sich verschiedene DLR-Institute seit ungefähr 20 Jahren mit neuen Ansätzen im Triebwerkbau – vom Contra-Rotating Open Rotor (CROR) bis hin zu Rotor-Stator-Kombinationen.
Das große Ziel
Heute ist die Vorgabe politischer Natur: weniger Klimawirkung durch Effizienzsteigerung in der Luftfahrt. Im Forschungs- und Innovationsprogramm „Clean Aviation Joint Undertaking“ der Europäischen Union ist unter anderem festgeschrieben, dass die Antriebseffizienz in den kommenden 25 Jahren um mindestens 30 Prozent gegenüber 2020 steigen soll. Einen Weg, um dies zu schaffen, sehen Forschende in der Weiterentwicklung des Triebwerks. Und hier kommt das vermeintlich ad acta gelegte Konzept des offenen gegenläufigen Rotors wieder zum Zuge. Die Technologie ist besonders für den Einsatz in Mittelstreckenjets interessant.
Das DLR-Institut für Antriebstechnik in Köln und das für Aerodynamik und Strömungstechnik in Braunschweig forschen in verschiedenen Projekten an offenen Rotoren, sowohl an klassischen Propellern (Turboprops) als auch an gegenläufigen offenen Konzepten (Open-Fans). Auch ummantelte Konzepte (Turbofans) nehmen sie in den Blick.
Offen versus ummantelt
Die Lage ist komplex: Unterschiedliche Triebwerke kommen in verschiedenen Fluggeräten zum Einsatz – wer eine Effizienzsteigerung erreichen möchte, wird mit einer pauschalen Lösung nicht weit kommen. Für kurze Strecken und eine Passagierobergrenze von 50 sind Propellermaschinen das Mittel der Wahl. Sie fliegen mit ungefähr 500 Kilometern pro Stunde. Geht es um längere Strecken, auf denen die Passagiere mehr Platz haben, muss das Flugzeug schneller fliegen. So erreicht ein A320, der für circa 180 Personen ausgelegt ist, im Reiseflug typischerweise eine Geschwindigkeit von 750 Kilometern pro Stunde. Konventionelle Propeller (Turboprops) können dies nicht leisten. Obwohl sie generell effizienter sind, verlieren sie bei hohen Geschwindigkeiten deutlich an Vortriebseffizienz.



Deshalb werden für Mittel- und Langstrecken ummantelte Strahltriebwerke (Turbofans) verwendet. Turboprops müssten größer sein, um diese Strecken zu schaffen – viel größer. Um einen Schub zu erzeugen wie den eines A320-Mantelstrom-Triebwerks mit zwei Metern Durchmesser, müsste ein konventioneller Propeller theoretisch so groß sein, dass er weder unter noch auf die Flügel passen würde. Auch am Heck und mit dem Leitwerk ließe er sich kaum integrieren. Ein kleinerer Propeller müsste sich viel schneller drehen, um den erforderlichen Schub zu erzeugen. Doch lässt sich die Drehzahl nur begrenzt steigern, denn für die Rotorblätter ergibt sich ab einer gewissen Geschwindigkeit eine zu hohe Belastung. Dann sinkt die Effizienz und der Lärm nimmt zu.

Dilemma gelöst
Um dieses Problem zu lösen, kamen Forschende auf die Idee, die ansonsten ungenutzte Drallenergie in Schub umzuwandeln, vom Prinzip her vergleichbar mit der Umwandlung von Brems- in Antriebsenergie beim Auto. Bei dem neuen Konzept des Open-Fans wurde zur Vermeidung dieses Verlustes ein Rotor entwickelt, dessen Blätter speziell für hohe Geschwindigkeiten ausgelegt sind. Ein dem Rotor nachgeschalteter Stator wandelt die Drallenergie in Schub um. Ein solches Triebwerk wäre sogar effizienter als ein vergleichbares Mantelstromtriebwerk – auch, weil der Strömungswiderstand ohne den Mantel sinkt. Allerdings verliert auch dieses Konzept bei mehr als 800 Stundenkilometern durch wachsende Reibungskräfte deutlich an Effizienz. Um offene Rotoren anzutreiben, ist ein konventionelles Kerntriebwerk nötig. Dieses muss klein und gleichzeitig hocheffizient sein. Dieser Herausforderung widmet sich das DLR-Institut für Antriebstechnik.

Der Rotor muss trotz stark variierender Windlasten immer stabil arbeiten
Lärmemission und aerodynamische Integration
Im Rahmen des EU-Projekts PANDORA* entwickeln die DLR-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler in Köln unter der Leitung der Universidad Politécnica de Madrid zusammen mit Safran Aircraft Engines sowie der École Centrale de Lyon und dem Imperial College ein neuartiges Rotor-Stator-Konzept. Das Projekt wird von der Europäischen Union im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms „Horizon Europe“ unter dem Förderkennzeichen 101096156 finanziert.
Zunächst entwarfen die Forschenden die Struktur und Performance des Triebwerks mithilfe neuartiger und hochentwickelter numerischer Algorithmen virtuell am Computer. Im zweiten Schritt konstruieren sie ein Modell, das sie im aeroakustischen Niedergeschwindigkeitswindkanal am DLR-Standort Braunschweig testen. Der Windkanal wird betrieben von der Stiftung Deutsch-Niederländische Windkanäle.
Herausfordernd waren neben der Performance vor allem die Lärmemissionen und die aerodynamische Integration. Dr. Rainer Schnell vom DLR-Institut für Antriebstechnik betont: „Ohne den Mantel fällt viel Schutz weg. Deshalb konzentriert sich unsere Forschung darauf, einen offenen Rotor so auszulegen, dass er in jeder Flugsituation auch strukturell stabil bleibt. Darüber hinaus soll er nicht mehr Lärm abstrahlen als heutige Rotoren und gleichzeitig im langen Reiseflug einen hohen Wirkungsgrad erzielen.“



Dabei müssen die Forschenden viele Vorgaben im Blick behalten, die wichtig sind, um das Triebwerk durch Zulassungsbehörden zertifizieren lassen zu können: Auf Ebene der Rotorblätter etwa müssen aus Stabilitätsgründen bestimmte Dicken eingehalten werden. Dies geht zulasten des Wirkungsgrades. Des Weiteren ist die Struktur des Rotors in verschiedenen Flugphasen ein großes Thema. Dazu Carola Rovira Sala vom DLR-Institut für Antriebstechnik: „Beim Start beträgt der Anstellwinkel – also der Winkel, in dem die Luft das Triebwerk anströmt – bis zu 20 Grad. Der Rotor muss trotz stark variierender Windlasten immer stabil arbeiten.“
Individuell verstellbare Statorblätter
Gerade bei Antrieben mit offenen Rotoren oder auch Propellern ist es essenziell, die Effekte, die neue Installationen hervorrufen, umfassend zu berücksichtigen. Dann lässt sich ein vielversprechendes Triebwerk optimal in das Gesamtsystem aus Flugzeugzelle und Antrieb integrieren. Zusammen mit Airbus und Safran erforschte das DLR-Institut für Aerodynamik und Strömungstechnik im Rahmen des europäischen Forschungsprogramms Clean Sky 2, wie sich die Integration verschiedener Open-Rotor-Konzepte auf die Umströmung der Flügel und die Aufhängung – insbesondere den Auftrieb und den Strömungswiderstand – auswirkt. Dazu betrachteten die Forschenden das Verhalten des Triebwerks zunächst isoliert und danach bei verschiedenen Anstellwinkeln. Mit einer speziellen Strömungssoftware analysierten sie zuerst die Aerodynamik des kompletten, nicht-angetriebenen Flugzeugentwurfs am Computer. Anschließend wurden Triebwerksgondeln – zunächst ohne, dann mit Rotorblättern und mit Schub – unter den virtuellen Tragflächen addiert.
Untersuchungen der Stator-Umströmung zeigten, dass hohe Anstellwinkel die aerodynamische Leistung einiger Statorschaufeln beeinflussen. Das kann sich auf die Effizienz des gesamten Motors auswirken und zu Vibrationen und Lärm führen. Diese Erkenntnis motivierte Dr. Arne Stürmer und sein Team aus dem DLR-Institut für Aerodynamik und Strömungstechnik, das Stator-Setup des Open-Fan-Antriebs umzudenken. Statt der ursprünglichen Idee, dass jeder Stator einen identischen Einstellwinkel hat, untersuchen sie nun ein Konzept, bei dem jeder Stator einen eigenen Einstellwinkel bekommt, um die ungünstige Aerodynamik bei hohen Anstellwinkeln zu vermeiden und die Effizienz des Antriebssystems zu verbessern. Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, bei der Entwicklung und Analyse von neuartigen Flugzeugen und Antrieben frühzeitig mit Simulationen zu arbeiten. So lassen sich aerodynamische Probleme rasch erkennen und entsprechende Lösungen erarbeiten.
Kompromiss als Schlüssel zum Erfolg
Sowohl bei einem Open-Fan-Triebwerk als auch bei propellergetriebenen Flugzeugen ist die Drehrichtung des Rotors eine wichtige Designentscheidung. In einer für Triebwerk-Hersteller idealen Welt säße auf jedem der beiden Flugzeugflügel ein Triebwerk, bei dem sich die Rotoren in dieselbe Richtung drehen. Der Vorteil: Man muss nicht für zwei verschiedenartige Triebwerke die Zulassung beantragen. Ein symmetrisches Design, bei dem sich die Rotoren an jedem Flügel in entgegengesetzter Richtung drehen, ist aerodynamisch und flugregelungstechnisch zwar einfacher und besser, in der Regel in vielen Aspekten aber auch teurer, denn es müssen separate Ersatzteile wie Rotorblätter für das linke und das rechte Triebwerk vorrätig gehalten werden. Theoretisch könnte der Stator den Drall vollständig auffangen und damit die Auswirkung der Rotordrehung auf den Flügel verhindern. Hierzu sind entsprechende Studien zum Statordesign notwendig.
Dr. Stürmer bilanziert für die komplexe Aufgabe der Antriebsintegration: „Es ist gerade bei offenen Rotoren fast immer so: Die Positionierung, in welcher der Antrieb eines neuartigen Flugzeugentwurfs am effizientesten ist, ist nicht die, in der die Flugzeugzelle am effizientesten ist. Alle Beteiligten müssen daher gemeinsam den Kompromiss finden, der für das Gesamtsystem am besten ist.“
Theorie und Praxis
Wenn es um die nächsten Schritte hin zur praktischen Demonstration eines offenen Rotor-Stator-Entwurfs geht, sind sich die DLR-Expertinnen und -Experten einig: Simulationen am Rechner allein – so ausgereift sie auch sein mögen – reichen nicht; benötigt werden realitätsnahe Tests. Letztes Jahr wurden in einem Kooperationsprojekt von Airbus und Safran erfolgreiche Windkanalversuche durchgeführt. Diese waren ein wichtiger erster Schritt bei der Entwicklung eines nächsten Passagierflugzeugs, das bereits mit einem offenen Rotor ausgestattet sein könnte. Ende 2025 startet ein weiteres Kooperationsprojekt mit Airbus, dessen Schwerpunkt auf der geräuscharmen und effizienten Integration eines Open-Fans in ein Flugzeug liegt. Damit wird das Open-Fan-Konzept vom Rechner in den Windkanal getragen.
Ein Beitrag von Michael Müller aus dem DLRmagazin 177