Artikel aus dem DLRmagazin 176: Simulationen und virtuelle Tests des DLR bringen die Digitalisierung der Schiene voran

Den digitalen Knoten entfesseln

Führerstand im RailSiTe-Labor
Hier kann das DLR auch untersuchen, wie Triebfahrzeugführende mit ETCS und steigender Automatisierung bei der Zugsteuerung umgehen.

Im Bahnnetz wird es immer enger, vor allem an Knotenpunkten. Gleichzeitig sollen in Zukunft mehr Menschen und Güter auf der Schiene transportiert werden als je zuvor. Um die dafür notwendigen Kapazitäten zu schaffen, ruhen große Hoffnungen auf der Digitalisierung – besonders im Bereich der Leit- und Sicherungstechnik. Die Verkehrsforschung des DLR unterstützt diesen Prozess mit Know-how, langjähriger Erfahrung und einmaligen Testlaboren für die digitale Zertifizierung und Weiterentwicklung von Komponenten und Systemen.

Bahnknoten sind neuralgische Punkte im Schienennetz: Mehrere Strecken kommen dort zusammen oder kreuzen sich. Sie sind deshalb extrem wichtig für den Betriebsablauf. Meist befinden sich an ihnen auch große Bahnhöfe. Die Kapazität der Bahnknoten, also wie viele Züge in einem bestimmten Zeitraum abgefertigt werden können, ist maßgeblich für die Funktion des Schienennetzes und dessen weiteren Ausbau. Denn neue zusätzliche Gleise oder Weichen sind bei komplexen Bahnknoten oft nur schwer umsetzbar. Die bestehende Bebauung in Innenstädten, Infrastruktur wie Tunnel und Brücken oder eine spezielle geografische Lage machen solche Vorhaben langwierig und teuer. Beispiele dafür sind die Hohenzollernbrücke in Köln oder die Stuttgarter Kessellage.

Unter einem digitalen Knoten versteht man zum Beispiel einen großen Bahnhof, bei dem der ganze Betrieb und die Instandhaltung digital organisiert und abgewickelt werden.

Dr. Michael Meyer zu Hörste, DLR-Institut für Verkehrssystemtechnik

Die Digitalisierung der Bahn und vor allem der Bahnknoten verspricht im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit große Potenziale freizusetzen. Die Erwartungen liegen zwischen 20 und 35 Prozent mehr Kapazität. Dafür sollen die Knoten möglichst im laufenden Betrieb und stufenweise digital umgerüstet werden.

Digitale Bahnknoten: Betrieb und Wartung virtuell gesteuert

Testfahrt im RailSiTe-Simulator
Im Labor kann die komplette Kette des Systems Schienenverkehr funktional im Detail abgebildet werden.

„Unter einem digitalen Knoten versteht man zum Beispiel einen großen Bahnhof, bei dem der ganze Betrieb und die Instandhaltung digital organisiert und abgewickelt werden“, beschreibt Dr. Michael Meyer zu Hörste vom DLR-Institut für Verkehrssystemtechnik in Braunschweig. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet er dort als Bahnforscher, vor allem im Bereich der Leit- und Sicherungstechnik. „In einem digitalen Knoten entstehen auch riesige Datenmengen. Diese Daten kann man systematisch sammeln und nutzen, um die Funktion einzelner Komponenten oder des ganzen Knotens zu analysieren und zu verbessern – auch mit Methoden der künstlichen Intelligenz“, blickt Meyer zu Hörste in die Zukunft. Für eine „vorrausschauende Wartung“ – auf Englisch Predictive Maintenance – könnte man die teilweise in Echtzeit zur Verfügung stehenden Daten außerdem verwenden, um möglichst genau vorherzusagen, wann Komponenten ermüden. So ließen sich Verschleißteile rechtzeitig austauschen und Ausfallzeiten verringern.

ETCS-Display
Ein Display zeigt Triebfahrzeugführenden beim Betrieb mit ETCS Level 2 alle wichtigen Informationen an. Konventionelle Signale auf der Strecke sind deshalb nicht mehr notwendig. Diese Ansicht stammt aus einer Testfahrt im RailSiTe-Simulator.
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Deutsche Bahn

Crashkurs Zugfahren

Trotz hoher Geschwindigkeiten und langer Bremswege zählt die Bahn zu den sichersten Fortbewegungsmitteln. Das liegt an den durch Schienen vorgegebenen Wegen und der weit vorausschauenden Leit- und Sicherungstechnik. Anders als beim Autofahren muss im Zugbereich schon gehandelt werden, weit bevor man Dinge wie Hindernisse überhaupt sieht. Bahnfahren hat seine eigene Logik und erfolgt immer im Dialog zwischen Lokführenden und Fahrdienstleitenden. Für alle Bahnstrecken gibt es ein genaues Streckenprofil. Darin sind alle wichtigen Informationen enthalten: zu vorgegebenen Geschwindigkeiten, den Standorten von Signalen und Weichen sowie zu Haltepunkten. Das Streckenprofil müssen die Lokführenden gut kennen. Deshalb fahren sie auch nie unbekannte Strecken.

Alle Bahnstrecken sind in sogenannte Blockabschnitte aufgeteilt. In ihnen darf sich immer nur ein Zug aufhalten. Je nachdem, wie frequentiert eine Strecke ist, können die Blockabschnitte wenige hundert Meter oder auch mehrere Kilometer lang sein. Vor Bahnhöfen werden die Abschnitte immer kürzer. Lokführende dürfen nur nach Freigabe durch die Fahrdienstleitung in einen Blockabschnitt einfahren. Innerhalb eines Abschnitts haben die Lokführenden dann – basierend auf den Angaben des Streckenprofils – eine gewisse Freiheit, wie schnell sie fahren, beschleunigen oder abbremsen wollen. Das Fahren nach Blockabschnitten ist seit Jahrzehnten etabliert und sehr sicher. Es ist computergesteuert, funktioniert mit mechanischen und elektrischen Komponenten sowie Funkverbindungen. Ein bedeutender Nachteil des Verfahrens ist sein Mangel an Dynamik und Flexibilität: Man weiß nur, dass ein Zug gerade in einem Blockabschnitt unterwegs ist, aber nicht genau wo. Will man die Kapazität von Bahnstrecken erhöhen, muss man die Blockabschnitte verkleinern. Dazu muss man exakt zu wissen, wo sich ein Zug im jeweiligen Abschnitt befindet. Dafür ist eine andere und bessere Technologie für die Ortung und Kommunikation notwendig – wie ETCS.

ETCS: vier Buchstaben für die digitale Schiene

Das „Europäische Zugbeeinflussungssystem“ – abgekürzt ETCS für Englisch „European Train Control System“ – spielt eine zentrale Rolle beim digitalen Bahnknoten und bei der Digitalisierung des gesamten Bahnsystems. Bereits in den späten 1980er Jahren gab es erste Überlegungen dazu, wie sich der Schienenverkehr in Europa digitalisieren und vereinheitlichen ließe. Im Mittelpunkt standen der Zugfunk, die Verkehrssteuerung und die Zugbeeinflussung.

München Hauptbahnhof
Der Münchener Hauptbahnhof ist mit 34 Gleisen der größte Bahnhof Europas, nur die Grand Central Station in New York mit 67 und der Shanghaier Bahnhof Hongqiao mit 41 Gleisen sind noch größer.
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Adobe Stock/Andy Ilmberger

Letzteres ermöglicht eine sichere Kontrolle: Fährt ein Zug zu schnell oder ohne Genehmigung auf einem Abschnitt, wird er automatisch vom System gebremst oder gestoppt. Bis heute kommen dazu in Deutschland und Europa eine Vielzahl an Systemen unterschiedlicher Hersteller zum Einsatz. Ihre „Interoperabilität“, also das reibungslose Zusammenspiel aller Komponenten im Zug und der Infrastruktur, muss deshalb vorher intensiv geprüft und zertifiziert werden.

ETCS soll für ein einheitliches, hohes Sicherheitsniveau sorgen und mehr Kapazität auf der Schiene ermöglichen. Notwendig sind dafür eine wesentlich genauere Ortung und mehr Kommunikation zwischen Schienenfahrzeugen, Infrastruktur und Fahrdienstleitung. ETCS dient zudem als Grundlage dafür, hochautomatisiertes Fahren zu ermöglichen. In Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern sind bereits einige Strecken und Fahrzeuge mit ETCS in Betrieb. Die Schienennetze der Schweiz und Luxemburgs sind nahezu vollständig damit ausgerüstet.

Allerdings haben mehr Kapazität und Flexibilität im Bahnverkehr mit ETCS ihren Preis: „Allein das deutsche Schienennetz umfasst nahezu 40.000 Kilometer. Täglich sind auf ihm mehr als 50.000 Personen- und Güterzüge unterwegs – mit steigender Tendenz. Auch wenn man nicht alle Strecken und Züge mit dem höchsten ETCS-Level ausrüsten kann und muss, ist das trotzdem eine Mammutaufgabe für alle Beteiligten“, fasst DLR-Experte Michael Meyer zu Hörste zusammen. „Auf Basis unserer wissenschaftlichen Arbeit und der langjährigen Erfahrung des DLR in der Bahnforschung können wir Akteure aus Industrie, Politik und Gesellschaft beraten und Handlungsoptionen aufzeigen.“

Die ETCS-Level

Beim Europäischen Zugbeeinflussungssystem ETCS (European Train Control System) gibt es unterschiedliche Funktionsstufen, die als Level bezeichnet werden. Sie beschreiben, wie und mit welchen Komponenten das Zusammenspiel von Zugfahrt und Fahrerlaubnis gesteuert und kontrolliert wird. Neben Level 1 und Level 2 gibt es auch die Erweiterung „Moving Block“, bei dem die Abstände der Züge zueinander automatisch erkannt werden. So können sie in kürzeren Abständen hintereinanderfahren und die Kapazität der Strecke weiter erhöhen.

DLR-Testlabor RailSiTe: digitale Systeme auch digital testen

Das Bahnsystem ist sehr komplex und hat umfassende Sicherheitsanforderungen. Kompliziert sind folglich auch die Prozesse für die Zulassung neuer Komponenten und Systeme. Gleichzeitig sind Tests unter realen Bedingungen auf der Schiene extrem aufwendig und aus Betriebs- wie Kostengründen nur sehr begrenzt möglich. Das DLR erforscht und testet deshalb im Bahnlabor RailSiTe seit mehr als zehn Jahren Konzepte und Verfahren, die dazu dienen sollen, neue Leit- und Sicherungssysteme schneller in Betrieb nehmen zu können. „Dafür bilden wir das Bahnsystem digital und im Detail nach. Dazu gehören die Zugfahrzeuge selbst, die Leit- und Sicherungstechnik auf den Strecken und in den Stellwerken, die Streckeninfrastruktur und die Schnittstellen für die Kommunikation zwischen Zug und Strecke“, erläutert Lennart Asbach, Abteilungsleiter Verifikation und Validierung am DLR-Institut für Verkehrssystemtechnik.

Euro-Balisen im Gleis
Beim Europäischen Zugbeeinflussungssystem ETCS übertragen Balisen Informationen zur Fahrzeugortung.
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Adobe Stock/alvaro

Eine Komponente, die das Team um Lennart Asbach bereits umfassend getestet hat, ist die sogenannte ETCS-Onboard-Unit. Sie überwacht den Zug und tauscht ständig Daten mit der Strecke aus. Dafür sind im Netz der Deutschen Bahn mehr als 13.000 ETCS-Balisen im Gleisbett verbaut. Diese kleinen gelben Kästen senden Informationen, zur Ortung des Zuges. Teilweise übertragen sie auch die Erlaubnis, den nächsten Streckenabschnitt zu befahren. Balisen müssen stets zuverlässig mit den Zügen unterschiedlicher Hersteller funktionieren. So dürfen zum Beispiel keine Signale von einer Balise im benachbarten Gleis empfangen werden. Neben den ETCS-Computern an Bord von Zügen können die DLR-Forschenden auch die Balisen selbst testen.

ETCS-Display
Ein Display zeigt Triebfahrzeugführenden beim Betrieb mit ETCS Level 2 alle wichtigen Informationen an. Konventionelle Signale auf der Strecke sind deshalb nicht mehr notwendig. Diese Ansicht stammt aus einer Testfahrt im RailSiTe-Simulator.
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Deutsche Bahn

Ein weiterer Schwerpunkt sind Methodik und Automatisierung solcher Tests: „Unser Ziel ist es, digitale Systeme wie ETCS auch komplett digital zu prüfen und zu zertifizieren. Die Automatisierung dieser Tests kann sie schneller, qualitativ hochwertiger und reproduzierbarer machen“, sagt DLR-Wissenschaftler Asbach. Beispielsweise konnte bereits die Zeit zum Testen von Fahrzeugrechnern halbiert werden.

Pilotprojekt: Digitaler Knoten Stuttgart (DKS)

Große Eisenbahnknoten enthalten eine fast unüberschaubare Anzahl von Komponenten, die alle miteinander in Verbindung stehen. Um zu funktionieren, muss jedes kleinste Teil davon an der richtigen Stelle sein und arbeiten wie geplant. Die Digitalisierung solcher Bahnknoten ist äußerst komplex, vor allem im laufenden Betrieb. Der Digitale Knoten Stuttgart (DKS) ist ein wichtiger Bestandteil des Projekts „Stuttgart 21“ zum Umbau des Hauptbahnhofs und zum Neubau der Strecke nach Ulm. Die Deutsche Bahn rüstet dafür erstmals einen großen Eisenbahnknoten mit digitaler Leit- und Sicherungstechnik aus. Dafür werden schrittweise rund 500 Netzkilometer im Großraum Stuttgart inklusive der S-Bahn mit ETCS, digitalen Stellwerken und weiterer Technik ausgestattet. Neben der Infrastruktur müssen auch alle Züge, die den DKS fahren sollen, umgebaut werden – rund 600 an der Zahl. Vor allem auf der hochbelasteten Stammstrecke der S-Bahn in Stuttgart sollen diese Maßnahmen eine kürzere Zugfolge ermöglichen.

Stellschrauben für mehr Kapazität finden

Oliver Röwer, Laborleiter RailSiTe
Hier stellt der Leiter von RailSiTe einem simulierten Zug das Signal auf Grün. In dem Labor des DLR in Braunschweig können Konzepte und Verfahren getestet werden, um neue Leit- und Sicherungssysteme schneller in Betrieb nehmen zu können.

Auf nationaler wie europäischer Ebene ist das Umrüsten von Zügen und Infrastruktur auf ETCS ein langfristiges Projekt. Das DLR unterstützt dabei mit Betriebssimulationen des Schienenverkehrs. „Auch wenn das Bahnsystem sehr komplex ist, lässt es sich mathematisch inzwischen gut beschreiben und am Computer simulieren“, erklärt Dr. Christian Meirich. Er leitet die Gruppe Bahnbetrieb am Institut für Verkehrssystemtechnik. Für diese Simulationen greifen die DLR-Forschenden ebenfalls auf das RailSiTe-Labor zurück: Dort bilden sie bestehende wie zukünftige Bahnsysteme, zum Beispiel für den automatischen Zugbetrieb, ab und verändern dann gezielt einzelne Parameter. Dazu zählen technische Größen wie Übertragungs- und Stellzeiten, betriebliche Aspekte wie die Zugfolge, Verspätungen und Vorgaben zur Pünktlichkeit bis hin zu unterschiedlichen Wetterbedingungen. „Wir entwickeln Szenarien, die zeigen, was unter gegebenen Bedingungen maximal möglich ist. So können wir Aussagen dazu treffen, wie wir die Kapazität des Systems weiter verbessern können“, beschreibt Christian Meirich weiter. Eine solche Komplexität könnte man nie mittels Testfahren in der Praxis nachstellen. Im Bahnbetrieb machen letztendlich Minuten und sogar Sekunden einen Unterschied: Benötigt ein Zug im Bahnhof drei Minuten, macht das pro Stunde insgesamt 20 Züge. Nur eine Minute mehr lässt die Kapazität auf 15 Züge pro Stunde schrumpfen. Auf manchen Strecken macht das den Unterschied, ob nur jede Stunde oder jede halbe Stunde ein Zug fahren kann.

Lennart Asbach und Christian Meirich sind sich sicher, dass die simulationsbasierten Lösungen des DLR genauso gut sind wie die Realität. „Wir testen jetzt schon virtuell, ob ein Zug in Zukunft durch ganz Deutschland und Europa fahren kann. Hersteller und Betreiber können wir so gezielt dabei unterstützen, die Herausforderungen des Bahnsystems von morgen zu meistern“, fasst DLR-Forscher Asbach zusammen.

Ein Beitrag von Denise Nüssle aus dem DLRmagazin 176

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